Die Gefährtin des Medicus
wie einst. Er hielt sie fest, und als sie sich wehrte, verstärkte er den Griff. Ehe sie schreien konnte, er möge sie loslassen, fand sie sich in einer Umarmung wieder. Er schwankte nicht wie beim letzten Mal, verlor das Gleichgewicht nicht. Er mochte zwar hinken, aber er war längst geübt genug, auf seinem Holzbein zu gehen und festen Stand zu finden.
Beim Anblick dieses Holzbeins war ihr, als könnte sie den Blutdunst riechen, der in der Luft gelegen hatte, als sie ihm mit Sancho das Bein abgeschnitten hatte. Weitere Erinnerungen stiegen in ihr hoch, verschüttet von vielen Jahren, doch so eindringlich, als wäre es gestern geschehen. Wie ihr Emy einst ein Kleid beschafft hatte und einen Kamm, mit dem sie das struppige Haar in Ordnung gebracht hatte – und wie Aurel beides nicht beachtet hatte, weil er mit dem Arm eines Toten beschäftigt gewesen war, den er einem Henker abgekauft hatte. Wie sie in der Sorgue gefischt hatten, einer von Giacintos Männern zu Sturz gekommen war und Aurel dessen Schädeldecke geöffnet hatte. Wie er in der Grotte mit seiner Zukunft gehadert hatte und sie mit der Vergangenheit, und wie sie in einer hitzigen, harten, schmerz – und irgendwie peinvollen Umarmung Labsal gesucht und Ernüchterung gefunden hatten.
»Du hast mir nie etwas gegeben!«, brach es aus ihr hervor. »Niemals! Du hast dich nie um mich geschert! Aber obwohl du es nicht beabsichtigt hast, habe ich an deiner Seite doch eines gelernt: wie man verletzte Körper zusammenflickt. Wie man heilende Verbände macht. Wie man Fieber senkt. Ich habe es mir nie gewünscht, aber das ist es, was ich kann. Das ist es, was ich dir verdanke. Wag es nicht, mir auch noch das zu nehmen. Wag es nicht, mir zu sagen, dass du nicht länger danach trachtest, den Tod zu besiegen. Das war doch das, was du immer wolltest und wofür du alles geopfert hast: ein
Cyrurgicus
zu sein!«
Sie kämpfte nicht mehr gegen seine Umarmung, sondern sprach gegen seine knöchrige Brust. Jetzt endlich ließ er sie los.
»Es tut mir leid«, murmelte er. Diese Worte gerieten in ihren Ohren zu einem unerträglicheren Spott, als es jede Widerrede vermocht hätte. Aurel war nie einer gewesen, dem irgendetwas leid getan hatte. Sie hätte auf ihn einschlagen wollen, wie er sie da um sich selbst betrog. Aber dann dachte sie an Dulcetas Mann und dass es eine bessere Möglichkeit gab, es ihm heimzuzahlen. Sie machte sich los, eilte davon, und diesmal hielt er sie nicht zurück.
Jetzt erst sah sie Emy. Er stand nicht weit von ihnen, im Schatten des Hauses. Gewiss hatte er gesehen, wie sie sich umarmt hatten – nur die Worte, die zornigen Worte, die sie zu Aurel gesprochen hatte, hatte er wohl nicht verstanden, denn nie in den letzten Jahren war sein höfliches Lächeln so trotzig gewesen und sein Blick so verloren.
Alaïs war in den letzten Jahrzehnten manch Krankem nahe gekommen, doch selten war ihr solch ein übler Geruch entgegengeschwappt wie in dem Augenblick, da sie Pierres Haus betrat. Seine Frau hatte die Fensterläden geschlossen – es war nicht offensichtlich, ob zum Zwecke, den Gestank vor der Welt zu verheimlichen oder den Mann vor deren schädlichen Einflüssen zu schützen. Die vielen Enkelkinder Dulcetas – nur Régine und Gaspard waren nicht dabei – standen um das Krankenbett. Eines von ihnen grinste, weil der Großvater sich so ungestüm darin wälzte, ein anderes hielt sich die Nase zu, zwei weitere glotzten gleichmütig.
»Hinaus!«, befahl Alaïs knapp, bevor sie den Kranken eingehend musterte. Was Aurel da von Tod und Hoffnungslosigkeit geschwafelt hatte, wollte sie nicht hinnehmen. Doch sie glaubte ihm, dass es sich bei dieser Krankheit nicht um das übliche Fieber handelte. Besser war es darum, die Kleinen fortzuschaffen.
Nachdem die Kinder die Kate verlassen hatten, trat sie näher. Sie kannte Pierre nicht sonderlich gut und war doch erschüttert, im Bett einen Fremden vorzufinden, der nichts mit dem rüstigen Mann gemein hatte, der einst die schlimme Verletzung gut überstanden hatte. Sie kannte verschiedene grässliche Masken, die der Schmerz dem Menschen ins Gesicht drückte – aber bislang keine, die es dermaßen verzerrte. Krebsrot vor Fieber war die Haut. Die Augen traten förmlich hervor, als suchten sie vor dem zu fliehen, was hinter der Stirn wütete.
»Mein Schädel«, brummte der Geplagte. »Mein Schädel platzt mir. ’s brennt ein Feuer darin.«
Alaïs war Ekel fremd geworden, und dennoch zögerte sie nun, sich zu
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