Die Gefährtin des Medicus
müssen nur beten«, sagte Catherine immer wieder. »Wir müssen beten!«
»Zu wem?«, fragte Dulceta sie – und wäre sie nicht so ausgelaugt gewesen, dann hätte Alaïs über die ungewohnt trotzige Stimme gegrinst. »Etwa zu Gott? Er ist es doch, der uns geißelt.«
»Aber die Jungfrau Maria ist gnädig«, seufzte Catherine. »Und der heilige Sebastian. Die Menschen aus den umliegenden Dörfern haben eine Wallfahrt unternommen, um seine Hilfe zu erbitten.«
»Besser, sie nutzen ihre Kräfte, um die Toten einzugraben«, knurrte Alaïs. Ein Dutzend Gräber waren auf dem Friedhof von Saint – Marthe hinzugekommen, und nun war kein Platz mehr für neue.
»Aber der heilige Sebastian kann nachfühlen, wie die Beulen schmerzen! Er ist doch selbst von vielen Pfeilen getroffen worden! Die heilige Irene hat sämtliche seiner Wunden geheilt … vielleicht … vielleicht hat sie auch Erbarmen mit uns!«
Alaïs sagte nichts mehr. Sie konnte den tröstlichen Gedanken nicht teilen, wollte ihn der anderen aber auch nicht nehmen, umso mehr, da Catherine drei Tage später selbst darniederlag.
Alaïs war bei ihrem Tod nicht zugegen. Allein an diesem Tag waren fünf weitere Menschen erkrankt. Einer gnadenlosen Welle glich die Seuche, die immer dann am härtesten zuschlug, nachdem sie sich für kurze Momente zurückgezogen hatte.
Anne – Marie, Catherines jüngere Schwester, erzählte Alaïs von dem Verlust – und sie hätte geweint, hätte sie an diesem Tag nicht schon ihren älteren Bruder gehen sehen.
»Aber sie ist friedlich gestorben«, murmelte sie.
»An dieser Krankheit stirbt keiner friedlich«, meinte Alaïs. »Die Schmerzen sind unerträglich, ob die Beulen nun platzen oder nicht.«
»Aber ich habe ihr zumindest die Beichte abgenommen!«, erklärte Anne – Marie.
Alaïs weitete den Blick. »Du?«
Was ihr die Fassung raubte, schien für andere längst alltäglich. Der Priester war geflohen, also musste man ohne ihn zurechtkommen. Männer taten, was sonst nur Geistlichen oblag, Frauen taten, was das Vorrecht der Männer war. Und irgendwann – Alaïs hatte vergessen, die Tage zu zählen, seit es den ersten Toten des Dorfs gegeben hatte – weigerten sich manche, überhaupt noch etwas zu tun.
Eines Tages sah Alaïs in den Morgenstunden, wie Elianor – eine Enkeltochter der zahnlosen Bethilie – rasch einen Korb vor einem der Häuser abstellte und hernach fortlief.
»Elianor! Was machst du?«
Elianor blieb stehen und wich Alaïs’ Blick aus. »Ich habe meiner Tochter nur etwas zu essen gebracht.«
Alaïs blickte sie ungläubig an. Elianors Tochter war erst zehn Jahre alt.
»Sie … sie ist krank«, stammelte Elianor. »Genauso wie ihr Vater.«
Sie senkte den Blick noch tiefer, wollte offenbar nicht zusehen, wie in Alaïs’ Miene langsam Begreifen reifte. Ganz offensichtlich hatte Elianor Angst vor ihrer eigenen Familie, versorgte sie zwar mit Nahrung, aber war nicht bereit, sie zu pflegen.
»Du traust dich in ihre Nähe«, erklärte Elianor fast schon trotzig. »Aber du zählst an die fünfzig Jahre, du bist alt. Du musst den Tod nicht fürchten, du hast dein Leben ja gelebt.«
Alaïs zuckte die Schultern. Sie hatte tatsächlich keine Angst vor dem Tod, aber nur, weil sie zu müde war, um darüber nachzudenken, nicht ihres Alters wegen. Sie wollte der anderen jedoch nicht widersprechen. Was sie in Elianors Gesicht aufblitzen sah – diesen festen, unerbittlichen, vielleicht bösen Willen, sich vor allem selbst nützlich zu sein und sich zuerst zu retten –, schien ihr in jenem dunklen Tal, wo Menschen in Fieber, Todesnot und Hoffnungslosigkeit zu Schatten verstummten, erstaunlich ehrlich. Lebendig auch. Und wohltuend.
»Ich verstehe dich«, sagte sie leise. »Ich verstehe dich doch.«
Elianor sagte kein Wort mehr, sondern machte kehrt und liefdavon. Vielleicht hatte sie Angst, Alaïs zu nahe zu kommen, setzte sich diese dem Gift der Seuche doch gnadenlos aus.
Alaïs hob den Kopf, spürte, wie die Sonne sie kitzelte. Schien sie erst jetzt oder hatte sie die ganzen letzten Wochen über auf sie herabgebrannt? War ihr Licht ein Zeichen von Hoffnung oder verschlimmerte die Hitze den Gestank der Toten?
Noch war ihre Familie gesund geblieben, Raymonda und Andriu, Emy, die Kinder.
Alaïs lehnte sich an das Haus von Elianor. Der Korb davor blieb unberührt.
»Ich verstehe dich doch«, murmelte sie.
Die einen beteten zum heiligen Sebastian, die anderen flohen vor ihren Familien, wieder andere
Weitere Kostenlose Bücher