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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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ungeerntet, und auf den Bäumen wuchsen Früchte und Oliven, im Gebüsch manche Beeren.
    Die Natur verspottet uns, ging es Alaïs durch den Sinn, als siebedachte, dass die Ernte der vergangenen Jahre oft so karg gewesen war, nun aber, da niemand sie einbringen konnte, so reichlich.
    Einmal passierte ein Reiter ihren Weg, und der Mann, der auf dem Pferd saß, war edler gekleidet als die Bauern und Fischer der südlichen Provence.
    »Woher kommt Ihr?«, rief Alaïs ihm zu. »Wisst Ihr von einem Ort, wo die Seuche nicht wütet?«
    Der Mann brachte das Pferd zum Stehen, es tänzelte einmal um die eigene Achse, ehe er weiterritt. Entsprechend knapp fiel seine Antwort aus: »Sie wütet einzig dort nicht, wo keine Menschen leben.«
    Nachdem er weitergeritten war und nur die tiefen Spuren der Pferdehufe noch an ihn erinnerten, machte Alaïs eine längere Rast. Die Kinder würden nicht mehr lange durchhalten.
    Sie blickte sich um, Mücken und Bienen surrten, ein Laut, der in Alaïs’ Ohren anmaßend klang, strotzte er doch vor Lebendigkeit. Sie drehte sich im Kreis, blickte in alle vier Himmelsrichtungen. Wenn die Seuche in jedem Dorf wütete, dann war es wohl ratsam, dorthin zu gehen, wo es keine Dörfer mehr gab.
     
    Das Bergland war karger, der Weg anfangs zerklüftet, dann gar nicht mehr vorhanden, und der Wind rauer. Niedrige Büsche kauerten hier, mit spitzen, stacheligen Blättern und Geäst, das in der Sonne bläulich glänzte.
    Die Kinder und sie hielten sich daran fest, wenn es steil aufwärts ging. Für diesen kantigen Flecken Erde hatte Gott wohl nur den Gebrauch gefühlloser Hufe vorgesehen, nicht den weicher Menschenfüße. An manchen Stellen hatten Ziegen die Wiesen bis zur körnigen Erde kahl gebissen, an anderen standen Gräser, Disteln und Büsche kniehoch, in Bodennähe noch durchtränkt vom Morgentau. Es knisterte, wenn die Halme brachen. Ziegen meckerten lustlos, ansonsten war es so still, als wäre hier seit Ewigkeiten kein menschliches Wort mehr gefallen.
    Fernab der bewohnten Welt schien das Wüten des Todes keine
    Macht zu haben – zumindest war das Alaïs’ Hoffnung. Dieses Fleckchen Erde musste er bereits verwaist vorgefunden haben, sodass er – solcherart unbewirtet geblieben – rasch das Weite suchte.
    Stückweise trug Alaïs nun mal das eine, mal das andere Kind. Deren laute Klagen, sie wollten nach Hause zu ihrer Mutter, setzten ihr viel mehr zu als deren Gewicht. Sie selbst war erstaunt, dass ihr Körper die Strapazen noch willig ertrug, sich von der hiesigen Kargheit, die dem überquellenden Tiefland folgte, sogar bestärken ließ. So viel ehrlicher deuchte sie dieses Land, so viel unverdrossener von der Wahrheit kündend, dass die Grenze zwischen Leben und Tod eine dünne war und der Kampf an dieser Schwelle ein harter.
    »Wohin gehen wir?«, klagte Régine nun immer öfter. »Wohin nur?«
    »Dorthin, wo keine Menschen sind«, sagte Alaïs knapp. Ihre einstige Sehnsucht, die sie stets dorthin getrieben hatte, wo es am lautesten und engsten war, schien mit jedem Schritt mehr zu verblassen. Während der Wind an ihren lose zusammengestückelten Gewändern zerrte, deuchte sie die Erinnerung an die Wärme schwitzender Leiber wie ein Traum, der in lieblicheren Gefilden munter wachsen mochte, nicht aber in einer Einöde, wo es zu wenig gab, woran sich die Phantasie entzünden konnte.
    »Ich habe Hunger!«, klagte Gaspard indessen nun immer häufiger.
    Und das, da musste Aläis ihm trotz aller Entschlossenheit zustimmen, wurde tatsächlich zum Problem. In der Höhe gab es keine Bäume mehr, an denen das Obst ungepflückt verfaulte, und auch keine Felder. Das war nicht das einzige übel: Mücken stoben angriffslustig hoch, wenn sie in einen Schwärm gerieten.
    »Haltet noch ein wenig durch!«, versuchte Alaïs die Kinder zu trösten. »Wir kommen sicher bald an einen Bach, und dann …«
    Nichts versprach hier einen Bach. überall bohrten sich Felsen durch das Gras. Eidechsen sonnten sich darauf und verkrochen sich rasch in Ritzen, sobald sie näher kamen.
    »Ich habe Hunger!«, klagte Gaspard wieder.
    »Jetzt reiß dich zusammen!« Es war Régine, die den Bruder maßregelte, nicht die Großmutter, die seufzend auf die geröteten Gesichter der Kinder hinabblickte.
    Der Tag rückte voran, die Sonnenstrahlen, eben noch so grell, dass ihr Licht förmlich zu zittern schien, wurden vom schroffen Schatten des gegenüberliegenden Berges abgeschnitten. Als die Luft endgültig auskühlte, gab Alaïs die

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