Die Gefährtin des Medicus
ihr Wort hatte mehr Macht als das der Großmutter oder das der Mutter. Mit auf den Boden gerichtetem Blick ging er weiter, immer weiter.
Alaïs seufzte erleichtert, wollte den Kindern folgen, doch in diesem Augenblick hörte sie aus einem der Häuser ein lautes Schreien.
Sie dachte, dass sie sich an einen Laut wie diesen längst gewöhnt hätte, dass sie abgestumpft wäre vom Elend der Sterbenden. Doch diese Klagelaute gingen ihr bis ins Mark. Weil sie besonders durchdringend waren? Weil sie ihr vertraut vorkamen? Oder weil sie die Erinnerung daran zurückbrachten, wie leise Emy gestorben war – und wie sehr Raymonda darum gekämpft hatte, ihre Fassung zu wahren und nüchterne Entscheidungen zu treffen?
Es war Aurel, der schrie – und er tat’s ohne Beherrschung.
Alaïs fühlte, wie sie ein Zittern überkam.
»Halt’s Maul!«, stieß sie aus. »Halt dein verfluchtes Maul!«
Sie sprach so leise, dass die Kinder sie nicht hören konnten, geschweige denn jener, der so laut nach ihr schrie. Dennoch fühlte sie sich danach befreiter.
Das Zittern erstarb. Sie packte wieder die Kinder, eines rechts, eines links.
»Kommt!«, sagte sie. »Kommt schnell!«
Das Schreien wurde leiser, doch nun kleidete es die Bitte um Fürsorge in Worte. »Wasser! Ich brauch Wasser! Ich komme um vor Durst! Alaïs, bist du da?«
Régine hob fragend den Kopf. »Großmutter«, murmelte sie, und ihre Stimme klang verängstigt. »Großmutter, hörst du?«
Alaïs rieb knirschend die Zähne aufeinander. Warum hatte Aurel nicht vor Emy sterben können? Warum erwies er sich selbst jetzt als lauter, fordernder, eigennütziger?
»Halt’s Maul!«, zischte sie wieder und beschleunigte ihren Schritt.
Sie drehte sich nicht um, nicht nach dem Schuppen, wo sieAurel wusste, nicht nach dem Haus, in dem Raymonda litt, noch nach dem eigenen, wo Emys Leichnam lag.
»Hörst du nicht?«, fragte Régine wieder. Gaspard jammerte leise.
»Nein!«, sagte Alaïs und suchte die Bilder zu vertreiben, in denen sich Aurel fiebrig und gekrümmt und von Beulen übersät auf dem Boden wälzte. »Nein, ich höre nichts. Und nun beeilt euch!«
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XLI. Kapitel
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Wie traumwandlerisch machte Alaïs ihre Schritte. Nachdem sie Saint – Marthe verlassen hatte, ging sie stur geradeaus. Eben noch war es Raymondas Wille gewesen, der sie zur Flucht getrieben hatte, nun erwachte in ihr selbst die Gier, nicht nach Freiheit, nicht nach Fremde, sondern nur nach reiner Luft. Manchmal starrte sie auf den Weg, manchmal auf den Himmel, der reinlich blau stand, gleichwohl sie nach all den letzten Wochen vermeinte, auch sein glattes Zelt müsste vor schwarzen Beulen bersten. Nur in eine Richtung starrte sie nicht – in jene der Dörfer, die sie passierten, einzelne Gehöfte von Bauern oder Katen von Fischern. Sie wollte nicht sehen, ob sich dort etwas regte oder nicht, wollte nicht lauschen, ob sich Totenstille ausbreitete oder noch jemand verzweifelt stöhnte wie Aurel.
In den ersten Stunden trafen sie nur einen Menschen – einen Mann, der mit gesenktem Blick wortlos an ihnen vorbeihastete. Er rammte seine nackten Füße förmlich in den Boden und schien ebenso erleichtert zu sein wie sie, als er weit genug von ihnen entfernt war. Erst dann ging Alaïs auf, dass er irgendetwas geschleppt hatte, was in ein großes Leinentuch eingehüllt gewesen war. Vielleicht war es sein Besitz, den er mitgenommen hatte, als er sich vor der Seuche in Sicherheit brachte, vielleicht Diebesgut, das er einem Toten entrissen hatte.
Nicht lange danach kam ihnen ein Hund entgegen, hinkend, weil ihm die vierte Pfote fehlte. Gewiss lag das an einem früheren Unfall – und doch hatte Alaïs das Gefühl, es könne nur ein böses Omen sein, dass nun auch bei den Tieren das große Sterben umging. Sie riss Régine zurück, die begeistert auf das Tier zusprang, um es zu streicheln.
»Rühr ihn nicht an!«, rief sie, obwohl die feuchten Augen des Hundes gutmütig glänzten und er kurz zu überlegen schien, ob er sich den fremden Menschen anschließen sollte. Alaïs schrilles Rufen aber vertrieb ihn. Gaspard brach in Weinen aus – nicht wegen des Hundes, sondern vor Müdigkeit.
»Mag nicht mehr weiterlaufen!«, erklärte er, gebrochen sprechend wie das Kind, das er noch vor zwei, drei Jahren gewesen war. »Mag nicht mehr!«
Alaïs blickte ihn sorgenvoll an. Sein Gesichtchen glühte rot in der Sonne; Régines Haut begann sich schon zu schälen. Nicht mehr lange, und ihre Füße wären voller
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