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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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befahl Alaïs.
    Sie watete als Erste hinein. Der See war kälter, als sie erwartet hatte. An der Oberfläche war er zwar noch lau, in der Tiefe jedoch empfing sie Eiseskälte, die sie laut prusten ließ. Erst als sich der störrisch aufflackernde Herzschlag wieder beruhigt hatte, erwachte die Gier, sich alles abzuwaschen, die Krankheit, die Beulen, das Blut, den Eiter. Sie drehte sich zum Ufer um, wo Régine vorsorglich die Hand ihres Bruders genommen hatte. »Taucht dort unter, wo ihr seid! Geht nicht mehr weiter, ihr dürft den Grund unter den Füßen nicht verlieren!«
    Régines Blick bekundete, dass sie davor keine Angst hätte, doch notgedrungen blieb sie beim Bruder.
    Alaïs indes hielt sich selbst nicht an den Rat, fühlte nach einigen Schritten, wie der sandige, steinige Boden schließlich unter ihr nachgab. Kurz verkrampfte sich ihr Körper, es war Ewigkeiten her, da sie geschwommen war, womöglich hatte sie es verlernt. Doch ihre Arme und Beine machten ganz selbstverständlich die notwendigen Bewegungen, um sie über Wasser zu halten – so wie einst als Kind, als ihr Vater Ray ihr das Schwimmen beigebracht hatte, oder wie später mit Sancho in einer Bucht von Mallorca. Und wie in dem Traum, den sie früher so oft geträumt hatte, in dem sie irgendwo schwamm und dabei nackt war.
    Sie tauchte mit ihrem Kopf unter, und das Wasser machte blind und taub und ließ vergessen, woher sie kam und was sie von dort fortgetrieben hatte. Erst als ihr die Luft knapp wurde, tauchte sie wieder aus dem gnädigen Zwischenreich auf, innewerdend, dass das, was einst größte Losgelöstheit versprochen hatte – das nackte Schwimmen –, heute nichts weiter war als das Trachten, sich gründlich vom Tod zu reinigen.
    Sie schwamm wieder zum Ufer, wo sie die Kinder dazu brachte, auch ihre Haare unterzutauchen. Als sie schließlich dem Wasser entstiegen, waren ihre Körper krebsrot vor Kälte – was Régine noch mehr faszinierte als die verbotene Nacktheit. Gaspard fröstelte, löste seine Hand von der seiner Schwester und lief zu den Kleidern.
    »Nein!«, rief Alaïs. »Das ziehen wir nicht mehr an! Wir machen uns neue Kleider!«
    Es war schwer, den Stoff, den sie in einem der Kaufmannswagen gefunden hatte, in brauchbare Stücke zu reißen. Doch schließlich hatte sie ausreichend viel zusammen, um sowohl Gaspard und Régine als auch sich selbst darin einwickeln zu können. Mit dem Messer, das sie bei sich trug, um den Dörrfisch aus dem Proviant zu schneiden, zerschnitt sie den restlichen Stoff zu kleinen Fäden, um das Leinen notdürftig festzubinden.
    Régine lachte, als sie sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. »Das sieht seltsam aus!«, erklärte sie.
    Indessen hatte Alaïs aus einem weiteren Stück Leinen einen neuen Beutel gemacht. Jenen aus Leder, den sie bislang mit sichgetragen hatte, wollte sie zurücklassen, so wie alles, was sie auf dem Leib getragen hatte und was noch den Odem des Todes mit sich tragen mochte.
    Auf das Essen konnte sie unmöglich verzichten, desgleichen nicht auf das Messer, aber als sie die Kinder schließlich zum Aufbruch trieb, trugen sie ansonsten nichts mehr mit sich, was sie an das Leben in Saint – Marthe erinnerte.
     
    Die Welt war nicht leer, auch wenn es zunächst den Anschein machte. Als sie beim nächsten Dorf vorbeikamen, wurden sie mit Steinen beworfen.
    »Haut ab!«, schrie eine Stimme, so durchdringend und aufgebracht, dass sich nicht entscheiden ließ, ob sie einem Mann gehörte oder einer Frau. Alaïs drückte die Kinder an sich und lief rasch weiter.
    Ein ähnliches Schauspiel wiederholte sich wenig später. »Wollt ihr etwa das große Sterben zu uns bringen?«, kreischte man und ließ keinen Zweifel, dass man ein Eindringen in das Dorf mit Gewalt zu verhindern wüsste.
    »War die Seuche denn noch nicht bei euch?«, schrie Alaïs zurück, als handelte es sich um einen Gast, dem sich die Tür weisen ließ.
    »Zehn Kranke, fünfzehn Tote«, wurde ihr geantwortet.
    Sie schüttelte den Kopf. »Und dann habt ihr Angst vor uns …«, murmelte sie, und wieder zog sie die Kinder rasch weiter.
    Anfangs hielt sie sich an Aureis Rat, gen Norden zu gehen. Doch als in der Ferne nicht mehr der blaue Streifen Meer zu sehen war, der klar den Süden andeutete, fiel es ihr schwer, sich zu orientieren. An Abzweigungen nahm sie nun einfach den besseren Weg, denn die Kinder klagten fortwährend über Erschöpfung.
    Zumindest an Hunger hatten sie nicht zu leiden. Viele Felder standen reif, aber

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