Die Gefährtin des Medicus
diesen Mann, der offenbar ein Experte für sämtliche Maßeinheiten war – die meisten mit verdrießlichem Gesicht, aber doch freiwillig, weil es keine andere Möglichkeit gab.
Ein Mann deutete eben auf einen Karren, auf dem zwei Dutzend Weinfässer gelagert waren. »An die hundert Sester habe ich hier.«
»Von Sester spricht man hier aber nicht«, belehrte ihn der Mann. »Kannst den Wein entweder nach Saum messen wie das Getreide, was sich wiederum danach richtet, welche Last ein einziges Saumtier tragen kann. Oder du verkaufst den Wein gemäß der Einheit der
Tonelli.
Vierundsechzig Sester passen hinein, zehn Sester wiederum ergeben einen Saum.«
Der Weinhändler grunzte unwillig, der Mann der Maße jedoch grinste – entweder befriedigt darüber, dass er durchschaute, in welch komplizierte Maßeinheiten sich die Welt einteilen ließ, oder gierig auf die Aussicht nach Lohn. Alaïs hörte kaum mehr zu, als er beim nächsten Händler die Aufteilung von Zentner in Pfunde erklärte und die Aufteilung des Pfundes in Unzen.
Sie verließ den Platz, durchschritt weitere der engen Gassen, erblickte immer neue dieser kleinen, schief gebauten Häuschen, jedoch kein Gebäude, das dem Palast eines Papstes glich. Schließlich sah sie ein, dass sie ihn auf sich gestellt nicht finden würde, und sie fragte einen fremden Mann danach. Als sie ihn ansprach, hatte er ihr seinen Rücken zugewandt. Erst als er antwortete, konnte sie sein Gesicht sehen – und zuckte zurück, nicht nur ob des grässlichen Anblicks, den sein verunstaltetesAntlitz bot, sondern auch ob der Woge fauligen Gestanks, die ihm entströmte. In den Gassen von Avignon roch es alles andere als frisch, zu viel Unrat sammelte sich hier, zu viel verkommene Nahrungsmittel. Doch der Mann stank noch übler, er roch nach verwesendem Fleisch.
»Was willst du?«, fragte er, undeutlicher gar als die alte Bethilie aus Saint – Marthe, der die beiden Schneidezähne fehlten.
»Wo ist der Palast des Papstes?«, fragte sie wieder.
»Hast etwa Hunger, Täubchen?«, nuschelte der Mann. »Dann flattere gefälligst woanders hin! Mach uns ja nicht den Hafer streitig.«
Alaïs wusste nicht, was er meinte, doch da er so übel roch, wich sie freiwillig zurück. Erst später erfuhr sie, dass der Papst regelmäßig Getreide aus seinen Vorräten opferte, um damit die Armen zu speisen. Rasch lief sie in die andere Richtung davon. Sie entkam so zwar dem üblen Gestank, doch im Wirrwarr der Straßen, die oft nicht gerade verliefen, sondern gebogen, fühlte sie sich alsbald gefangen wie in einem Labyrinth. Unmöglich deuchte es sie nun nicht mehr nur, den Palast des Papstes zu finden, ja, allein zum Hause Giacinto Navales zurückkehren zu wollen, wäre ein unsinniges Trachten gewesen.
Unschlüssig lehnte sie an einer Ecke, verschnaufte und wurde fast von einem Pferd niedergerissen. Dessen Reiter trieb es ungeduldig an, blind für die menschlichen Hindernisse, die sich ihm in einer überfüllten Stadt entgegenstellten. Seinem finsteren Gesicht nach zu schließen, hätte er es wohl in Kauf genommen, manchen Knochen zu Brei zu stampfen – vorausgesetzt, er erreichte nur rechtzeitig sein Ziel. Nachdem Alaïs ihren ersten Schrecken überwunden hatte, hob sie fluchend die Faust wider ihn, doch da war er schon davongeritten, und das Einzige, was noch an ihn erinnerte, waren die Huf spuren und der aufgewirbelte Staub.
»Würde dem lieber nicht mein Fäustchen zeigen!«, traf sie da eine Stimme. »Hast du nicht sein langes Schwert gesehen?«
Die Stimme war unangenehm, hoch und quietschend. Doch das Gesicht der Frau, von der sie kam, war weniger verunstaltetund dafür viel freundlicher als das des Bettlers. Vor allem stank sie nicht.
»Das ist einer der Kuriere des Papstes«, erklärte sie ungefragt und erwies sich als eine, die gerne tratschte. »Früher schickte er Mönche und Priester, doch da die Straßen unsicher sind und viele ihr Ziel nicht erreichten, sind’s nun bewaffnete Ritter, die sich auf den Weg machen.«
Sie lachte, ohne zu erklären, was daran zu lustig war.
»Ich muss zum Palast des Papstes!«, flehte Alaïs.
Das Lachen verstummte. Der Mund verzog sich abschätzend. »Mädchen, Mädchen, unsereins hat dort nichts verloren!«
Alaïs stampfte auf. »Aber ich muss!«
Die Frau verzog abschätzig den Blick. »Nun gut«, meinte sie. »Nicht weit vom einstigen Haus des Bischofs ist das Almosenamt. Es mag geduldet werden, dass du dort auftauchst – auch wenn du nicht
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