Die Gegenpäpstin
äußerster Sorgfalt die unendlich wertvollen Seiten auf. Feinstes, gebleichtes
Ziegenleder, Tinte aus dem Balg des gleichnamigen Fisches, und eine Schrift so sauber, als hätte man sie eben erst niedergeschrieben.
Während er auf einem harten Fußbänkchen niederkniete, begann er die in Aramäisch geschriebenen Wortreihen zu murmeln, so lange
und eindringlich, bis sie ihn unter unsäglichen Schmerzen in eine andere Wirklichkeit katapultierten, fernab von aller Gegenwart
und doch so nah wie die Dunkelheit, die ihn plötzlich mit eisiger Kälte umgab.
Vor seinem geistigen Auge erschien eine männliche Gestalt. Erst klein, doch dann immer größer werdend, trug sie das Gewand
eines Hohepriesters, wie es vor zweitausend Jahren unter den Anhängern einer geheimen Bruderschaft in Jerusalem üblich gewesen
war.
Das Gesicht der Gestalt verzerrte sich, und die Augen stachen wie glühende Kohlen aus den tiefliegenden Höhlen empor.
|8| »Findet sie!« schrie die Gestalt mit einer Stimme, so unvermittelt und laut, daß es ihm durch Mark und Bein fuhr. »Denn eure
Seelen werden nicht eher zur Ruhe gelangen, bis das Reich unseres Herrschers gekommen ist.«
»Es ist vollbracht, o Herr«, flüsterte der Erhabene ehrfürchtig, während sich die verzerrten Züge seines geistigen Gegenübers
augenblicklich zu einer Miene des Triumphs wandelten.
»Wir haben die Toten gefunden«, fuhr er mutig fort. »Und auch die Tochter aus dem Hause Zadoks wurde entdeckt.«
»Vereint Euch mit ihr«, zischte die furchterregende Gestalt. »Noch vor dem fünften Mond. Und der Messias, den sie gebiert,
wird unser sein.«
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|9| Teil I
1.
Januar 2007 – Jebel Tur’an
Ein Wolkenbruch peitschte über das Karmelgebirge hinweg, während Doktor Sarah Rosenthal, die Laptop-Tasche fest unter den
rechten Arm geklemmt, über den Parkplatz für Angehörige der Universität Haifa hastete. Erleichtert, wenn auch ziemlich durchnäßt,
schlüpfte sie durch den gläsernen Eingang des 102 Meter hohen
Eshkol Tower
, der den Campus überragte. Ungeduldig wartete sie im Parterre auf den Aufzug, der sie zu ihrem Arbeitszimmer in den siebten
Stock des Gebäudes beförderte. Eigentlich hätte sie um acht Uhr in der Frühe ihren Dienst antreten müssen. Mittlerweile war
es bereits kurz vor neun. Ihr Wagen war nach mehrmaligen erfolglosen Versuchen nur unter Mithilfe eines freundlichen Nachbarn
angesprungen, der das Fahrzeug kurzgeschlossen hatte. Ein Umstand, der sich in letzter Zeit unerfreulich oft wiederholte und
mittlerweile nicht mehr für eine Ausrede taugte.
Ihr Chef, Yitzhak Bergman, Professor für Archäologie, konnte Unpünktlichkeit auf den Tod nicht ausstehen.
Rachel, die mütterliche Vorzimmerdame Bergmans, begrüßte Sarah augenzwinkernd im Flur, der zu den einzelnen Büros der archäologischen
Abteilung führte. »Tee?« fragte sie fürsorglich.
»Gerne«, antwortete Sarah, während sie ihr Arbeitszimmer aufschloß und sich ihres nassen Parkas entledigte. Allein die atemberaubende
Rundumsicht über die Bucht von Haifa entschädigte für das winzige Arbeitszimmer, das sie seit gut drei Jahren ihr Eigen nannte.
Heute war es allerdings zu diesig, um einen Ausblick auf die beiden beeindruckenden amerikanischen Flugzeugträger zu erhaschen,
die seit Tagen im Hafen vor Anker lagen.
|10| Während Rachel eintrat und ihr eine Tasse mit dampfendem Darjeeling hinstellte, klingelte das Telefon.
»Archäologisches Institut der Universität Haifa, Rosenthal«, meldete sich Sarah und kippte gleichzeitig einen guten Löffel
Zucker in den Tee.
»Israel Antiquities Authority«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, und Sarah nahm beinahe Haltung an. Die IAA war
die Behörde in Israel, die für die Vergabe von Grabungslizenzen im Lande zuständig war.
»Wie kann ich Ihnen helfen?« fragte Sarah diensteifrig. Während der Kollege am anderen Ende der Leitung begann, sein Anliegen
vorzutragen, nahm sie sich einen Block, um sich Notizen zu machen.
»Geht in Ordnung«, sagte sie abschließend. »Ich werde mich der Sache annehmen.«
Bevor sie an ihrem Tee nippen konnte, klingelte es erneut. Auf dem Display konnte sie sehen, daß es Yitzhak Bergman war.
»Er wartet bereits auf dich«, bemerkte Rachel. »Ist wohl was Dringendes.«
Sarah warf einen wehmütigen Blick auf den Tee und erhob sich seufzend. Ihr Verhältnis zu Professor Bergman war nicht unbedingt
das, was man ideal nennen konnte. Zu Beginn ihrer
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