Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
stehen. Schließlich fragte er schüchtern: »Sind Sie aus New York City?«
»Nein«, sagte Charles und nahm den Biskuitteller von Henry in Empfang. »Von hier.«
»Aus Hoosa tonic ?«
»Nein. Aus Vermont, meine ich.«
»Nicht aus New York?«
»Nein«, sagte Francis fröhlich und schnitt in den Schweinebraten. »Ich bin aus Boston.«
»Da war ich mal«, sagte der Junge beeindruckt.
Francis lächelte geistesabwesend und griff nach einer Platte.
»Da müssen Sie ja auf die Red Sox stehen.«
»Tu’ ich auch«, sagte Francis. »Ziemlich. Aber sie gewinnen anscheinend nie, nicht wahr?«
»Manchmal doch. Aber ich schätze, wir werden wohl nie erleben, daß sie die Meisterschaft gewinnen.«
Er lungerte immer noch vor unserem Tisch herum und überlegte, was er sonst noch sagen könnte, als Henry den Kopf hob.
»Setzen Sie sich«, sagte er unverhofft. »Essen Sie mit uns, ja?«
Nach kurzem, verlegenem Abwehren zog er sich einen Stuhl heran, aber essen wollte er nichts. Das Restaurant schloß um acht, erzählte er, und wahrscheinlich würde niemand mehr kommen. »Wir liegen abseits des Highway«, sagte er. »Die meisten Leute hier gehen ziemlich früh schlafen.« Sein Name, erfuhren wir, war John Deacon; er war so alt wie ich – zwanzig – und bis vor zwei Jahren zur Equinox High School drüben in Hoosatonic gegangen. Seit dem Examen, sagte er, arbeitete er auf der Farm seines Onkels; der Kellnerjob war eine neue Sache, eine Beschäftigung für den Winter. »Es ist erst meine dritte Woche hier«, sagte er. »Aber es gefällt mir, schätze ich. Das Essen ist gut. Und ich kriege meine Mahlzeiten umsonst.«
Henry hatte eine generelle und von diesen erwiderte Abneigung
gegen hoi polloi – eine in seinen Augen sehr weitreichende Kantegorie, die von Teenagern mit Ghettoblastern bis zum Studiendekan von Hampden reichte, einem vermögenden Mann mit einem in Yale erworbenen akademischen Grad in American Studies –, aber er hatte ein echtes Faible für arme Leute, einfache Leute, Leute vom Lande; er genoß den Abscheu der akademischen Oberschicht von Hampden, aber die Bewunderung der Hausmeister, Gärtner und Köchinnen dort. Zwar behandelte er sie nicht wie seinesgleichen, aber er verfiel auch nicht in die herablassende Freundlichkeit der Reichen. »Ich denke, wir sind, was Krankheit und Armut angeht, sehr viel heuchlerischer als die Menschen früherer Zeiten«, sagte Julian, wie ich mich erinnere, einmal. »In Amerika bemüht der Reiche sich, so zu tun, als wäre der Arme ihm in jeder Hinsicht, vom Geld einmal abgesehen, gleich, und das ist einfach nicht wahr. Erinnert sich jemand an Platons Definition von Gerechtigkeit in der Republik? Gerechtigkeit herrscht in einer Gesellschaft dann, wenn jeder innerhalb einer Hierarchie an seinem Platz arbeitet und damit zufrieden ist. Ein armer Mann, der sich über seinen Stand erheben möchte, macht sich nur unnötig unglücklich. Und die weisen Armen haben dies immer gewußt, genauso wie die weisen Reichen.«
Nun bin ich nicht völlig sicher, ob dies stimmt – denn wenn es stimmt, wo stehe ich dann? Putze ich immer noch Windschutzscheiben in Plano? –, aber es unterliegt keinem Zweifel, daß Henry sich seiner eigenen Fähigkeiten und seiner Stellung in der Welt so sicher war und sich so wohl damit fühlte, daß er andere (einschließlich meiner selbst) auf seltsame Weise veranlaßte, sich in ihrer jeweiligen minderen Position ebenso wohl zu fühlen, wie immer sie auch aussehen mochte. Arme Leute waren von seinem Benehmen meistens nicht beeindruckt und konnten infolgedessen daran vorbei auf den wirklichen Henry sehen, den Henry, den ich kannte, schweigsam, höflich und in vieler Hinsicht so einfach und geradlinig, wie sie es auch waren. Es war ein Talent, das er mit Julian gemeinsam hatte; auch dieser wurde von den Landmenschen, die in seiner Umgebung wohnten, sehr bewundert, ganz wie man es sich gern bei dem gütigen Plinius vorstellt, dem die armen Leute von Comum und Tifernum ja auch mit großer Zuneigung begegneten.
Während des Essens unterhielten Henry und der Junge sich auf höchst vertrauliche – und für mich ganz verblüffende – Weise über die Gegend von Hampden und Hoosatonic – Bebauungsvorschriften,
Erschließungspläne, Grundstückspreise pro Morgen, Bebauungssperren und Besitzverhältnisse –, und wir anderen aßen und hörten zu. Es war ein Gespräch, das man an jeder beliebigen ländlichen Tankstelle oder Futterhandlung hätte mit anhören
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