Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
gern so viel Land, daß ich von da, wo ich wohne, keine Straße und keinen Telefonmast und nichts sehe, was ich nicht sehen möchte. Vermutlich ist das heutzutage unmöglich, und das Haus liegt ja praktisch an der Straße. Ich habe einmal eine andere Farm gesehen, jenseits der Grenze, im Staat New York ...«
Ein Lastwagen schoß rauschend und gischtaufspritzend vorbei.
Alle wirkten ungewöhnlich ruhig und gelassen, und ich glaubte zu wissen, warum. Es war, weil Bunny nicht bei uns war. Sie mieden das Thema mit wohlbedachter Sorglosigkeit; er mußte jetzt irgendwo sein, dachte ich, und irgend etwas tun – was, wollte ich nicht fragen. Ich lehnte mich zurück und betrachtete die silbrigen, taumelnden Bahnen der Regentropfen, die über mein Fenster wehten.
»Wenn ich irgendwo ein Haus kaufen würde, dann würde ich es hier kaufen«, sagte Camilla. »Mir waren die Berge immer schon lieber als das Meer.«
»Mir auch«, sagte Henry. »Ich vermute, in dieser Hinsicht ist mein Geschmack ziemlich hellenistisch. Von Land umschlossene Gegenden interessieren mich, entlegene Ansichten, wildes Land. Ich habe nie das geringste Interesse für die See aufgebracht. Ganz, wie Homer über die Arkadier spricht – erinnert ihr euch? ›Mit Schiffen hatten sie nichts zu tun ... ‹«
»Das kommt, weil du im Mittelwesten aufgewachsen bist«, behauptete Charles.
»Aber wenn man dieser Argumentation folgen wollte, würde das
bedeuten, daß ich flaches Land liebe, Ebenen. Was ich aber nicht tue. Die Schilderungen Trojas in der Ilias sind schrecklich – nur flaches Land und brennende Sonne. Nein. Ich habe mich immer zu schroffen, wilden Gegenden hingezogen gefühlt. Die merkwürdigsten Sprachen kommen aus solchen Landschaften, die seltsamsten Mythologien und die ältesten Städte und die barbarischsten Religionen - Pan selbst wurde ja in den Bergen geboren, wißt ihr. Und Zeus. »In Parrhasia war’s, daß Rheia dreie gebar «, fuhr er verträumt fort und verfiel ins Griechisch, »wo ein Hügel war, geschützt von dichtem Gestrüpp ...«
Es war inzwischen dunkel. Ringsum lag das Land verschleiert und geheimnisvoll, ganz still in Nacht und Nebel. Dies war entlegenes, unbereistes Land, felsig und dicht bewaldet, ganz ohne die Heimeligkeit von Hampden mit seinen welligen Hügeln, seinen Skihütten und Antiquitätenläden; dies war hochgelegenes und gefahrenvolles und primitives Land, durch und durch schwarz und trostlos und sogar frei von Reklametafeln.
Francis, der diese Gegend besser kannte als wir, hatte behauptet, es gebe ein Gasthaus in der Nähe, aber es war schwer zu glauben, daß im Umkreis von fünfzig Meilen auch nur irgendeine Behausung stehen sollte. Dann, hinter einer Biegung, strich unser Scheinwerferlicht über ein Blechschild, das ganz pockennarbig von Schrotkugeln war und das uns davon in Kenntnis setzte, daß das »Hoosatonic Inn«, geradeaus vor uns gelegen, der eigentliche Geburtsort der »Pie à la Mode« sei.
Das Haus war von einer baufälligen Veranda umgeben – durchgesessene Schaukelstühle, abblätternde Farbe. Die Diele drinnen war ein faszinierendes Gewirr von Mahagoni und mottenzerfressenem Samt, durchsetzt mit Rehschädeln, Tankstellenkalendern und einer großen Sammlung von Zweihundertjahrfeier-Souvenirs, die an der Wand hingen.
Das Lokal war leer bis auf ein paar Leute vom Lande, die dort zu Abend aßen, als wir eintraten; sie musterten unsere dunklen Anzüge und Brillen, Francis’ Manschettenknöpfe mit dem Monogramm und seine Charvet-Krawatte, Camilla mit ihrem jungenhaften Haarschnitt und dem schlanken kleinen Astrachanmantel. Ich war ein bißchen überrascht von dieser kollektiven Offenheit – man starrte uns nicht an und schaute auch nicht mißbilligend –, bis mir einfiel, daß diese Leute wahrscheinlich gar nicht wußten, daß wir vom College waren. In der näheren Umgebung hätte man uns unverzüglich als reiche Kids aus der Oberstadt eingestuft, Kids, die
wahrscheinlich eine Menge Krach machten und ein schlechtes Trinkgeld hinterließen. Aber hier waren wir nur Fremde, in einer Gegend, in der Fremde selten waren.
Es kam nicht einmal jemand zu uns, um unsere Bestellung entgegenzunehmen. Das Essen erschien wie durch Zauberei: Schweinebraten, Biskuits, Rüben und Mais und Bohnenpüree in dicken Porzellanschüsseln mit Bildern der Präsidenten (bis Nixon) an den Rändern.
Der Kellner, ein rotgesichtiger Junge mit abgekauten Fingernägeln, blieb noch einen Augenblick unschlüssig
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