Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
sich geweigert hatte, ihn nach Washington D. C. zu fahren, wo er sich im Smithsonian eine Ausstellung von Doppeldeckern aus dem Ersten Weltkrieg anschauen wollte. Die Zwillinge bekamen zweimal täglich Anrufe von einem ominösen B. Perry von ihrer Bank und Henry von einem D. Wade von der seinen; Francis’ Mutter hatte erfahren, daß er versucht hatte, Geld von ihrem Treuhandfonds abzuheben, und jeder Tag brachte eine neue Briefsalve von ihr. »Guter Gott«, murmelte er, als er das neueste Schreiben aufgerissen und angewidert überflogen hatte.
»Was schreibt sie denn?«
»› Baby. Chris und ich machen uns solche Sorgen um dich‹«, las Francis mit ausdrucksloser Stimme. »›Nun will ich nicht so tun, als wüßte ich allzuviel von der Jugend heute, und vielleicht bin ich zu alt, um zu verstehen, was Du möglicherweise durchmachst. Aber ich habe immer gehofft, Du könntest mit Deinen Problemen zu Chris gehen.‹«
»Chris hat ’ne Menge mehr Probleme als du, scheint mir«, bemerkte ich. Die Figur, die Chris in »The Young Doctors« spielte, schlief mit der Frau seines Bruders und war in einen Babyschmugglerring verwickelt.
»Das würde ich auch sagen, daß Chris Probleme hat. Er ist sechsundzwanzig und mit meiner Mutter verheiratet, nicht wahr?
›Nun ist es mir wirklich zuwider, davon anzufangen‹«, las er weiter, »›und ich hätte es gar nicht vorgeschlagen, wenn Chris nicht davon angefangen hätte, aber Du weißt ja, wie sehr er Dich liebt, und er sagt, er hat solche Sachen schon sehr oft gesehen, im Showbusineß, weißt Du. Also habe ich im Betty-Ford-Center angerufen - und, mein Goldstück, was glaubst Du? Sie haben ein hübsches kleines Zimmer für Dich, das nur auf Dich wartet‹ – nein, laß mich zu Ende lesen«, sagte er, als ich anfing zu lachen. »›Ich weiß ja, daß Du diese Idee abscheulich findest, aber Du brauchst Dich wirklich nicht zu schämen, es ist eine Krankheit, Baby, das haben sie mir auch gesagt, als ich dort war, und gleich habe ich mich so viel besser gefühlt, Du kannst es Dir nicht vorstellen. Natürlich weiß ich nicht, was Du da nimmst, aber wirklich, Darling, laß uns einmal praktisch sein, was immer es ist, es muß schrecklich teuer sein, nicht wahr, und da muß ich ganz ehrlich mit Dir sein und Dir sagen, wir können es uns einfach nicht leisten – nicht bei dem Zustand Deines Großvaters und den Steuern für das Haus und allem ... ‹«
»Du solltest mal hinfahren«, meinte ich.
»Machst du Witze? Das ist in Palm Springs oder irgendwo, und außerdem glaube ich, die sperren dich ein und zwingen dich, Aerobic zu machen. Sie guckt zuviel Fernsehen, meine Mutter«, sagte er und schaute wieder in den Brief.
Das Telefon fing an zu klingeln.
»Gottverdammt noch mal«, sagte er mit müder Stimme.
»Geh nicht ran.«
»Wenn ich nicht rangehe, ruft sie die Polizei.« Er nahm den Hörer ab.
Ich ging allein hinaus (Francis schritt auf und ab. »Komisch ? Was soll das heißen, ich klinge komisch ?«) und lief zum Postzimmer, wo ich in meinem Fach zu meiner Überraschung ein elegantes kleines Briefchen von Julian fand, der mich für den nächsten Tag zum Lunch einlud.
Julian gab zu besonderen Gelegenheiten manchmal einen Lunch für die Klasse; er war ein ausgezeichneter Koch, und als er als junger Mann von seinem Treuhandvermögen in Europa gelebt hatte, hatte er auch im Ruf eines ausgezeichneten Gastgebers gestanden. Dies war im übrigen die Grundlage seiner Bekanntschaft mit den meisten Berühmtheiten in seinem Leben. Osbert Sitwell erwähnt in seinem Tagebuch Julian Morrows »Sublime kleine fêtes «, und ähnliche Bemerkungen finden sich in den Briefen von
Leuten wie Charles Laughton, der Herzogin von Windsor oder Gertrude Stein; Cyril Connolly, der dafür berüchtigt war, daß man ihn als Gast nur schwer zufriedenstellen konnte, erzählte Harold Acton, Julian sei der netteste Amerikaner, den er je kennengelernt habe – ein, zugegeben, zweischneidiges Kompliment –, und Sara Murphy, selbst keine üble Gastgeberin, flehte in einem Brief einmal um sein Rezept für sole veronique. Aber obgleich ich wußte, daß Julian häufig Henry zu einem Lunch à deux einlud, hatte ich doch noch nie eine Einladung erhalten, allein mit ihm zu essen, und ich fühlte mich geschmeichelt und zugleich irgendwie beunruhigt. Zu jener Zeit kam mir alles, was auch nur leicht aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fiel, ominös vor, und so erfreut ich auch war, ich hatte doch unwillkürlich das
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