Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
ich und griff nach der Schüssel.
Nach dem Essen, als das Geschirr abgeräumt war und wir über dies und das plauderten, fragte Julian aus heiterem Himmel, ob mir in letzter Zeit an Bunny irgend etwas Eigenartiges aufgefallen sei.
»Hm, nein, eigentlich nicht«, sagte ich und nahm behutsam einen kleinen Schluck Tee.
Er hob eine Braue. »Nicht? Ich finde, er benimmt sich sehr merkwürdig. Henry und ich sprachen erst gestern darüber, wie schroff und streitsüchtig er geworden ist.«
»Ich denke, er hat irgendwie schlechte Laune.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Edmund ist eine so einfache Seele. Ich hätte nie gedacht, daß er mich je überraschen könnte, aber neulich hatten er und ich eine sehr sonderbare Unterhaltung.«
»Sonderbar?« fragte ich vorsichtig.
»Vielleicht hatte er nur etwas gelesen, was ihn beunruhigt hatte. Ich weiß es nicht. Aber ich mache mir Sorgen um ihn.«
»Warum?«
»Offen gesagt, ich fürchte, er hat es plötzlich schrecklich mit der Religion.«
Ich war wie vom Donner gerührt. »Wirklich?«
»Ich habe so etwas schon erlebt. Und ich wüßte sonst keinen Grund für sein plötzliches Interesse an Ethik. Nicht, daß Edmund verkommen wäre, aber tatsächlich ist er so wenig an Moral interessiert wie kaum ein Junge, den ich gekannt habe. Ich war sehr verblüfft, als er anfing, mich – in aller Ernsthaftigkeit – nach so nebelhaften Dingen wie Sünde und Vergebung zu befragen. Er
denkt daran, in die Kirche zu gehen; ich weiß es einfach. Vielleicht hat dieses Mädchen etwas damit zu tun; was glauben Sie?«
Er meinte Marion. Er hatte die Gewohnheit, Bunnys Fehler allesamt indirekt ihr zuzuschreiben – seine Faulheit, seine schlechten Launen, seine geschmacklichen Fehltritte. »Vielleicht« sagte ich.
»Ist sie katholisch?«
»Ich glaube, sie ist Presbyterianerin«, sagte ich. Julian empfand eine höfliche, aber unversöhnliche Verachtung für die judaischchristliche Tradition in buchstäblich all ihren Formen. Er bestritt es, wenn man ihn darauf ansprach, und erwähnte ausweichend seine Vorliebe für Dante und Giotto, aber alles unverhohlen Religiöse erfüllte ihn mit heidnischem Schrecken; ich glaube, insgeheim fand er wie Plinius, dem er in so vieler Hinsicht ähnelte, daß es sich um einen degenerierten Kult handle, der zu extravaganten Auswüchsen getrieben worden sei.
»Presbyterianerin? Wirklich?« sagte er bestürzt.
»Ich glaube.«
»Nun, was immer man von der Römischen Kirche halten mag, sie ist doch eine würdige und mächtige Feindin. Wenn er zu ihr konvertieren würde, könnte ich das mit Anstand akzeptieren. Aber ich wäre wirklich sehr enttäuscht, wenn wir ihn an die Presbyterianer verlören.«
In der ersten Aprilwoche schlug das Wetter plötzlich um und wurde, der Jahreszeit ganz ungemäß, beharrlich freundlich. Der Himmel war blau, die Luft warm und windstill, und die Sonne beschien den schlammigen Boden mit all der süßen Ungeduld des Juni. Zum Waldrand hin färbten die jungen Bäume sich gelb mit dem ersten Hauch des neuen Laubs; Spechte lachten und trommelten im Geäst, und wenn ich bei offenem Fenster im Bett lag, hörte ich die ganze Nacht hindurch das Rauschen und Gurgeln des geschmolzenen Schnees in den Abflüssen.
In der zweiten Aprilwoche warteten alle in banger Sorge, ob das Wetter sich halten würde. Es hielt sich, mit heiterer Sicherheit. Hyazinthen und Narzissen blühten auf den Beeten, Veilchen und Immergrün in den Wiesen; klamme, verknitterte weiße Schmetterlinge flatterten trunken zwischen den Hecken. Ich hängte den Wintermantel weg, stellte die Überschuhe in den Schrank und lief, beinahe benommen vor Freude, in Hemdsärmeln umher.
»Das bleibt nicht so«, sagte Henry.
In der dritten Aprilwoche, als die Rasenflächen grün wie das Paradies waren und die Apfelbäume bedenkenlos erblühten, saß ich am Freitag abend in meinem Zimmer und las; die Fenster waren offen, und ein kühler, feuchter Wind bewegte die Blätter auf meinem Schreibtisch. Drüben auf der anderen Seite des Rasens wurde eine Party gefeiert, und Lachen und Musik wehten durch die Nachtluft. Es war lange nach Mitternacht. Ich döste halb eingeschlafen über meinem Buch, als jemand unten vor meinem Fenster meinen Namen brüllte.
Ich richtete mich auf, und gerade noch rechtzeitig sah ich, wie einer von Bunnys Schuhen zum Fenster hereingeflogen kam. Mit dumpfem Schlag polterte er auf den Boden. Ich sprang auf und lehnte mich aus dem Fenster.
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