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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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abrupt.
    Irgendwie hatte ich immer gewußt, daß es so kommen würde: wir beide allein, Bunny betrunken, mitten in der Nacht ... »Aber wieso«, antwortete ich. »Du brauchst nur ein bißchen ...«
    »Du glaubst, ich bin ein Irrer. ’n Sprung in der Schüssel. Kein Mensch hört mir zu.« Seine Stimme wurde lauter.
    Ich war erschrocken. »Beruhige dich«, sagte ich. »Ich höre dir zu.«
    »Na, dann hör dir das an«, begann er.
     
    Es war drei Uhr morgens, als er aufhörte zu reden. Die Geschichte, die er erzählte, war wirr vom Alkohol, bruchstückhaft und voller Abschweifungen. Aber ich hatte keine Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Es war eine Geschichte, die ich schon einmal gehört hatte.
    Eine Zeitlang saßen wir schweigend da. Die Schreibtischlampe schien mir in die Augen. Die Party drüben war immer noch mächtig im Gange; gedämpft war der Lärm eines aufdringlich hämmernden Songs in der Ferne zu hören.
    Bunnys Atem ging jetzt geräuschvoll und asthmatisch. Der Kopf fiel ihm auf die Brust, und er schrak wieder hoch. »Was?« fragte er verwirrt, als sei jemand von hinten an ihn herangetreten und habe ihm etwas ins Ohr gebrüllt. »Oh. Ja.«
    »Ich sagte nichts.
    »Was sagst du dazu, he?«
    Ich war außerstande, ihm zu antworten. In mir war die leise Hoffnung erwacht, er könne einfach eingeschlafen sein.
    »’ne verdammte Sache. Wahrheit ist wahrer als Dichtung, Junge. Moment, das stimmt nicht. Wie geht das noch?«
    »Wahrheit ist wundersamer als Dichtung«, sagte ich mechanisch. Vermutlich war es ein Glück, daß ich mich nicht bemühen mußte, erschüttert oder verdutzt auszusehen. Ich war so durcheinander, daß mir fast schlecht wurde.
    »Da sieht man’s eben«, meinte Bunny betrunken. »Könnte der Junge von nebenan sein. Könnte jeder sein. Weiß man nie.«
    Ich ließ das Gesicht in die Hände sinken.
    »Erzähl’s, wem du willst«, sagte Bunny. »Erzähl’s dem gottverdammten Bürgermeister. Mir egal. Sollen sie nur alle in das kombinierte Postamt und Gefängnis sperren, das sie da neben dem Gericht haben. Er hält sich für so schlau«, knurrte er. »Na, wenn das hier nicht Vermont wäre, dann würde er nachts nicht so gut schlafen, das sag’ ich dir. Mein Dad und der Police Commissioner in Hartford sind die besten Freunde. Wenn der das je erfährt- Mann! Er und Dad sind zusammen zur Schule gegangen. In der Zehnten bin ich mit seiner Tochter ...« Sein Kopf sank wieder herunter, und dann schüttelte er sich. »Jesus«, sagte er und wäre fast aus dem Sessel gefallen.
    Ich starrte ihn an.
    »Gib mir den Schuh, ja?«
    Ich reichte ihm den Schuh, und die Socke ebenfalls. Er starrte beides einen Moment lang an und stopfte es dann in die Außentaschen seines Blazers. »Laß dich nicht von Wanzen beißen«, sagte er, und dann war er weg. Meine Zimmertür ließ er offen. Ich hörte seinen eigentümlich hinkenden Schritt, bis er unten war.
    Die Gegenstände im Zimmer schienen mit jedem dumpfen Herzschlag anzuschwellen und wieder zurückzuweichen. Schrecklich benommen, saß ich auf dem Bett, den einen Ellbogen auf die Fensterbank gestützt, und versuchte mich zusammenzureißen. Diabolische Rap-Music wehte vom Haus gegenüber herauf, wo zwei schattenhafte Gestalten auf dem Dach kauerten und leere Bierdosen auf eine klägliche Gruppe von Hippies schleuderten, die sich um ein Feuer in einer Mülltonne drängten und versuchten, einen Joint zu rauchen. Eine Bierdose segelte vom Dach, dann wieder eine, und sie traf einen der Hippies mit blechernem Klang am Kopf. Gelächter, erboste Schreie.
    Ich starrte die Funken an, die aus der Mülltonne sprühten, als mir plötzlich ein schrecklicher Gedanke kam. Wieso hatte Bunny beschlossen, zu mir zu gehen, und nicht zu Cloke oder zu Marion? Als ich aus dem Fenster schaute, war die Antwort so offensichtlich, daß es mich fröstelte. Er war gekommen, weil mein Zimmer mit Abstand das nächste war. Marion wohnte in Roxburgh House am anderen Ende des Campus, und Clokes Zimmer war auf der anderen Seite von Durbinstall. Beide waren viel zu weit weg für einen Betrunkenen, der in die Nacht hinausstolperte. Aber Monmouth
House war keine zehn Meter entfernt, und mein Zimmer mit dem auffällig erleuchteten Fenster mußte wie ein Leuchtfeuer seinen Weg überstrahlt haben.
    Vermutlich wäre es interessant, zu behaupten, daß ich mich in diesem Augenblick hin- und hergerissen fühlte, daß ich mit den moralischen Implikationen der sich mir bietenden Möglichkeiten rang. Aber ich

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