Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
erinnere mich nicht, daß es mir so ergangen wäre. Ich zog ein Paar Slipper an und ging die Treppe hinunter, um Henry anzurufen.
Das Münztelefon in Monmouth House hing an der Wand neben der Hintertür und war für meinen Geschmack zu exponiert; also ging ich hinüber zum Gebäude der Naturwissenschaften. Meine Schuhe quietschten im taunassen Gras. Ich fand ein besonders abgelegenes Telefon im zweiten Stock bei den Chemielabors.
Das Telefon klingelte sicher hundertmal. Niemand meldete sich. Schließlich drückte ich entnervt auf die Gabel und wählte die Nummer der Zwillinge. Es klingelte achtmal, neunmal – dann kam, zu meiner Erleichertung, Charles’ verschlafenes Hallo.
»Hallo, ich bin’s«, sagte ich rasch. »Es ist was passiert.«
»Was denn?« fragte er, plötzlich hellwach. Ich hörte, wie er sich im Bett aufsetzte.
»Er hat es mir erzählt. Eben.«
Es war lange still.
»Hallo?« sagte ich.
»Ruf Henry an«, sagte Charles unvermittelt. »Leg auf und ruf ihn sofort an.«
»Hab’ ich schon getan. Er meldet sich nicht.«
Charles fluchte leise. »Laß mich überlegen«, sagte er. »Ach, verflucht. Kannst du herkommen?«
»Sicher. Sofort?«
»Ich laufe hinunter zu Henry und sehe, ob ich ihn an die Tür kriegen kann. Wir müßten wieder dasein, wenn du hier ankommst. Okay?«
»Okay«, sagte ich, aber er hatte schon aufgelegt.
Als ich ungefähr zwanzig Minuten später bei den Zwillingen eintraf, kam Charles eben von Henry zurück, allein.
»Kein Glück?«
»Nein«, sagte er schwer atmend. Sein Haar war zerzaust, und er trug einen Regenmantel über dem Pyjama.
»Was machen wir jetzt?«
»Ich weiß nicht. Komm mit hinauf. Wir überlegen uns etwas.«
Wir hatten gerade die Mäntel ausgezogen, als in Camillas Zimmer das Licht anging und sie blinzelnd und mit glühend roten Wangen in der Tür erschien. »Charles – was machst du denn hier?« fragte sie, als sie mich erblickte.
Ziemlich unzusammenhängend erklärte Charles ihr, was geschehen war. Mit dem Unterarm beschirmte sie schlaftrunlcen die Augen. Sie trug ein viel zu großes Männernachthemd, und ich merkte, daß ich ihre nackten Beine anstarrte – braune Waden, schmale Knöchel, hübsche Knabenfüße mit staubigen Sohlen.
»Ist er denn da?« fragte sie.
»Ich weiß, daß er da ist.«
»Bist du sicher?«
»Wo sonst sollte er um drei Uhr morgens sein?«
»Moment mal«, sagte sie und ging zum Telefon. »Ich will nur etwas ausprobieren.« Sie wählte, lauschte einen Augenblick, drückte auf die Gabel und wählte noch einmal.
»Was machst du denn da?«
»Es ist ein Code«, sagte sie und klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr. »Zweimal klingeln lassen, auflegen und wieder anrufen.«
»Ein Code ? «
»Ja. Er hat mir mal gesagt – oh, hallo, Henry«, sagte sie plötzlich und setzte sich.
Charles schaute mich an.
»Verdammt noch mal«, sagte er leise. »Er muß die ganze Zeit wach gewesen sein.«
»Ja«, sagte Camilla eben; sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und starrte zu Boden und ließ dabei den Fuß des oberen Beins müßig auf und ab wippen. »Ist recht. Ich sag’s ihm.«
Sie legte auf. »Er sagt, du sollst rüberkommen, Richard. Sofort. Er wartet auf dich. Wieso guckst du mich so an?« fragte sie schroff, an Charles gewandt.
»Ein Code, hm?«
»Und?«
»Du hast mir nie davon erzählt.«
»Das ist dumm. Ich habe nie daran gedacht.«
»Wozu braucht ihr einen geheimen Code, du und Henry?«
»Er ist nicht geheim.«
»Wieso hast du mir dann nichts davon erzählt?«
»Charles, sei kein solches Baby.«
Henry empfing mich hellwach im Bademantel an seiner Haustür. Ich folgte ihm in die Küche, und er goß mir ein Tasse Kaffee ein und ließ mich Platz nehmen. »Und jetzt«, sagte er, »erzähl mir, was passiert ist.«
Das tat ich. Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch, rauchte eine Zigarette nach der andern und schaute mich mit seinen blauen Augen unverwandt an.
Nur ein- oder zweimal unterbrach er mich, um etwas zu fragen. Bestimmte Stellen mußte ich wiederholen. Ich war so müde, daß ich ein bißchen umständlich wurde, aber er hörte sich meine Abschweifungen geduldig an.
Als ich geendet hatte, war die Sonne aufgegangen, und die Vögel zwitscherten. Flecken schwebten vor meinen Augen. Eine feuchte, kühle Brise bewegte die Vorhänge.
Henry knipste die Lampe aus, ging zum Herd und begann ziemlich mechanisch Eier und Speck zu braten. Ich sah zu, wie er sich auf bloßen Füßen in der
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