Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
ihre Augen. »O nein.«
»Was ist?« fragten alle gleichzeitig.
»Das Abendessen. Heute ist Sonntag. Er kommt heute abend zum Essen zu uns.«
Düsteres Schweigen.
»Daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, sagte Charles. »Nicht ein einziges Mal.«
»Ich auch nicht«, sagte Camilla. »Und wir haben nichts zu essen zu Hause.«
»Dann müssen wir auf dem Rückweg einlcaufen.«
»Was können wir machen?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas Schnelles.«
»Nicht zu fassen, ihr beiden«, sagte Henry wütend. »Ich habe euch gestern abend daran erinnert.«
»Aber wir haben es vergessen«, sagten die Zwillinge in simultaner Verzweiflung.
»Wie konntet ihr?«
»Na, wenn du aufwachst und vorhast, jemanden zu ermorden, dann überlegst du dir ja wohl kaum, was du der Leiche zum Abendessen servieren willst.«
»Spargel hat gerade Saison«, sagte Francis hilfreich.
»Ja, aber haben sie im Food King welchen?«
Henry seufzte und wandte sich dem Wald zu.
»Wo gehst du hin?« fragte Charles erschrocken.
»Ich will ein paar Farnkräuter ausgraben. Dann können wir gehen.«
»Ach, laß es uns doch einfach vergessen«, sagte Francis; er zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz weg. »Niemand wird uns sehen.«
Henry drehte sich um. »Aber es könnte uns jemand sehen. Und wenn uns jemand sieht, will ich auf jeden Fall erklären können, weshalb wir hier waren. Und heb das Streichholz auf«, sagte er säuerlich zu Francis, der eine Rauchwolke von sich blies und ihn anfunkelte.
Es wurde mit jeder Minute dunkler, und kalt wurde es auch. Ich knöpfe mir die Jacke zu, setzte mich auf einen klammen Stein oberhalb der Schlucht und starrte zu dem schlammigen, von Laub verstopften Bach, der dort unten vorbeirieselte; mit halbem Ohr hörte ich den Zwillingen zu, die darüber diskutierten, was sie zum Abendessen machen wollten. Francis stand an einen Baum gelehnt und rauchte. Nach einer Weile drückte er die Zigarette an der Schuhsohle aus, kam herüber und setzte sich neben mich.
Minuten vergingen. Der Himmel war so bewölkt, daß er im Abendrot fast purpurn aussah. Ein Windhauch raschelte in einer Gruppe von weißleuchtenden Birken auf der anderen Seite der Schlucht, und mich fröstelte. Die Zwillinge stritten monoton. Wenn sie in solcher Stimmung waren – verstört und aufgeregt –, klangen sie manchmal wie Heckle und Jeckle.
Plötzlich brach Henry mit großem Getöse aus dem Unterholz hervor und wischte sich die erdverkrusteten Hände an der Hose ab. »Da kommt jemand«, sagte er leise.
Die Zwillinge verstummten und starrten ihn an.
»Was?« sagte Charles.
»Hinten herum. Hört doch.«
Stumm schauten wir einander an. Ein kalter Wind rauschte durch den Wald, und ein Schauer von Hartriegelblüten wirbelte auf die Lichtung.
»Ich hör’ nichts«, sagte Francis.
Henry legte einen Finger an die Lippen. Wir standen alle fünf noch einen Augenblick lang angespannt da und warteten. Ich holte Luft und wollte etwas sagen, als ich plötzlich doch etwas hörte.
Schritte. Das Knacken von Zweigen. Wir sahen einander an. Henry nagte an der Unterlippe und schaute sich hastig um. Rings um die Schlucht war es kahl; es gab hier kein Versteck, und wir konnten nicht über die Lichtung und in den Wald laufen, ohne viel Lärm zu machen. Henry öffnete den Mund, als es plötzlich ganz in der Nähe im Gestrüpp krachte, und er verschwand zwischen zwei Bäumen hindurch von der Lichtung wie jemand, der sich auf einer Großstadtstraße in einen Hauseingang drückt.
Wir anderen, auf freier Fläche gestrandet, schauten erst einander und dann Henry an, der zehn Meter weit von uns entfernt sicher im Schatten des Waldsaums stand. Er winkte uns ungeduldig zu. Ich hörte knirschende Schritte auf dem Kies, und fast ohne zu merken, was ich tat, drehte ich mich ruckartig um und tat, als studiere ich den Stamm eines nahen Baumes.
Die Schritte kamen näher. Es kribbelte mir im Nacken, und ich beugte mich vor, um den Baumstamm eingehender zu inspizieren: silbrige Rinde, die sich kühl anfühlte, Ameisen, die in glitzernd schwarzer Kolonne aus einer Ritze marschiert kamen. Ich starrte sie angestrengt an und zählte die Schritte, als sie herankamen.
Plötzlich hielten sie an, dicht hinter meinem Rücken.
Ich blickte auf und sah Charles. Er schaute mit gespenstischem Gesichtsausdruck geradeaus, und ich war im Begriff, ihn zu fragen, was los sei, als mich eine Woge der Fassungslosigkeit überströmte, daß mir flau wurde: Ich hörte Bunnys
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