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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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dem leeren Himmel. Vom Münztelefon aus rief ich bei Henry an. Niemand da. Bei den Zwillingen meldete sich auch niemand.
    Das Commons war menschenleer bis auf zwei hagere alte Hausmeister und die Lady mit der roten Perücke, die das ganze Wochenende an der Telefonzentrale saß und strickte, ohne sich um die hereinkommenden Anrufe zu kümmern. Wie immer blinkten die Lichter voller Hektik, und sie hatte ihnen den Rücken zugewandt und merkte nichts, ganz wie der unheilvolle Funker auf der Californian in der Nacht, als die Titanic unterging. Ich ging an ihr
vorbei den Gang hinunter zu den Automaten, um mir einen Becher wäßrigen Instantkaffee zu holen, ehe ich es noch einmal mit dem Telefon versuchte. Noch immer meldete sich niemand.
    Ich legte auf und schlenderte zurück zum verlassenen Aufenthaltsraum, eine Zeitschrift von Hampden-Absolventen, die ich im Postzimmer gefunden hatte, unter dem Arm, und setzte mich in einen Sessel am Fenster, um meinen Kaffee zu trinken.
    Fünfzehn Minuten vergingen, dann zwanzig. Die Zeitschrift war deprimierend. Hampden-Absolventen schienen nach der Schule nie etwas anderes zu tun, als kleine Keramikläden in Nantucket aufzumachen oder in einen Ashram nach Nepal zu ziehen. Ich warf das Heft beiseite und starrte abwesend aus dem Fenster. Das Licht draußen war sehr eigenartig. Irgendwie ließ es das Grün des Rasens intensiver erscheinen, so daß die ganze weite Fläche unnatürlich wirkte, leuchtend fast, als sei sie nicht recht aus dieser Welt. Eine amerikanische Flagge, kraß und einsam vor dem violetten Himmel, peitschte am Flaggenmast aus Messing hin und her.
    Ich saß da und starrte sie eine Weile an. Plötzlich konnte ich es nicht einen Augenblick länger ertragen. Ich zog meinen Mantel an und ging hinaus zu der Schlucht.
     
    Der Wald war totenstill und abweisender, als ich ihn je gesehen hatte – grün und schwarz und unbewegt, und dunkel roch es nach Erde und Moder. Kein Wind wehte; kein Vogel sang, und kein Blatt rührte sich. Die Blüten des Hartriegel standen aufrecht und weiß, surreal und still vor dem dunkler werdenden Himmel, der schweren Luft.
    Ich fing an zu laufen; Zweige knickten unter meinen Füßen, und mein heiserer Atem tönte laut in meinen Ohren. Nach kurzer Zeit führte der Weg auf die Lichtung hinaus. Halb keuchend blieb ich stehen, und es dauerte einen Moment, ehe ich begriff, daß niemand da war.
    Die Schlucht lag zur Linken – roh und tückisch, und tief unten ein steiniger Grund. Sorgsam darauf bedacht, der Kante nicht zu nah zu kommen, ging ich darauf zu, um besser sehen zu können. Alles war absolut still. Ich wandte mich ab, dem Wald zu, aus dem ich gerade gekommen war.
    Da hörte ich zu meiner ungeheuren Überraschung ein leises Rascheln, und Charles’ Kopf erhob sich aus dem Nirgendwo. »Hey!« flüsterte er erfreut. »Was, um alles in der Welt ... ?«
    »Halt den Mund«, sagte jemand schroff, und einen Augenblick
später erschien Henry wie durch Zauberei und trat aus dem Unterholz.
    Ich war sprachlos und verdattert. Er blinzelte mich verärgert an und wollte etwas sagen, als es plötzlich im Geäst krachte; staunend drehte ich mich um und sah noch, wie Camilla, mit einer Khakihose bekleidet, an einem Baumstamm herunterkletterte.
    »Was ist los? hörte ich Francis irgendwo in der Nähe fragen. »Kann ich jetzt eine Zigarette rauchen?«
    Henry gab ihm keine Antwort. »Was machst du hier?« fragte er mich in sehr aufgebrachtem Ton.
    »Heute ist ’ne Party.«
    »Was?«
    »Eine Party. Da ist er jetzt.« Ich schwieg einen Moment. »Er kommt nicht.«
    »Seht ihr, ich hab’s doch gesagt.« Verdrossen stelzte Francis aus dem Gestrüpp und wischte sich die Hände ab. Es war typisch für ihn, daß er nicht dem Anlaß entsprechend gekleidet war; er hatte einen ziemlich hübschen Anzug an. »Niemand hört auf mich. Ich habe ja gesagt, wir hätten schon vor einer Stunde gehen sollen.«
    »Woher weißt du, daß er auf der Party ist?«« fragte Henry.
    »Er hat eine Nachricht hinterlassen. In der Bibliothek.«
    »Laßt uns nach Hause gehen«, sagte Charles und wischte sich mit dem Handballen einen Schlammstreifen von der Wange.
    Henry achtete nicht auf ihn. »Verdammt«, sagte er und schüttelte den Kopf so schnell wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. »Ich hatte so sehr gehofft, wir könnten es hinter uns bringen.«
    Eine lange Pause folgte.
    »Ich habe Hunger«, sagte Charles.
    »Ich bin am Verhungern«, sagte Camilla abwesend, und dann weiteten sich

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