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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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blickte zu Boden. »Das ist sehr merkwürdig, aber sie sagt, Rika Thalheim, eine Freundin von ihr, hat Bunny heute nachmittag vor der First Vermont Bank stehen sehen.«
    Das verschlug uns die Sprache. Francis lachte kurz und ungläubig auf.
    »Mein Gott«, sagte Charles, »das ist unmöglich.«
    »Das ist es allerdings«, sagte Henry trocken.
    »Wieso sollte jemand so etwas erfinden?«
    »Keine Ahnung. Vermutlich bilden sich die Leute ein, alles mögliche zu sehen. Nun, natürlich hat sie ihn nicht gesehen«, fügte er gereizt hinzu, als er merkte, wie beunruhigt Charles aussah. »Aber ich weiß nicht, was wir jetzt tun sollen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Nun, wir können nicht gut anrufen und ihn als vermißt melden, wenn ihn vor sechs Stunden jemand gesehen hat.«
    »Was machen wir dann? Abwarten?«
    »Nein«, sagte Henry und biß sich auf die Unterlippe. »Ich muß mir etwas anderes einfallen lassen.«
     
    »Wo um alles in der Welt ist Edmund?« fragte Julian am Donnerstag morgen. »Ich weiß nicht, wie lange er zu fehlen gedenkt, aber es ist sehr gedankenlos von ihm, sich nicht bei mir zu melden.«
    Niemand antwortete. Er blickte von seinem Buch auf, belustigt über unser Schweigen.
    »Was ist denn los?« fragte er scherzhaft. »All diese betretenen Gesichter. Vielleicht«, fuhr er in kühlerem Ton fort, »sind einige von Ihnen beschämt darüber, wie unzureichend Sie für die gestrige Stunde vorbereitet waren.«
    Ich sah, wie Charles und Camilla einen Blick wechselten. Aus irgendeinem Grund hatte Julian uns ausgerechnet in dieser Woche mit Arbeit eingedeckt. Auf die eine oder andere Weise hatten wir es alle geschafft, die schriftlichen Hausaufgaben mitzubringen; aber keiner von uns war bei der Lektüre mitgekommen, und im Unterricht am Tag zuvor war mehrmals ein qualvolles Schweigen eingetreten, das nicht einmal Henry hatte beenden können.
    Julian blickte in sein Buch. »Bevor wir anfangen«, sagte er, »sollte einer von Ihnen vielleicht bei Edmund anrufen und ihn fragen, ob er wohl zu uns kommen würde, wenn er kann. Es stört mich nicht, daß er seine Lektion nicht gelesen hat, aber dies ist eine wichtige Stunde, und er sollte sie nicht versäumen.«
    Henry stand auf. Aber da sagte Camilla ganz unerwartet: »Ich glaube nicht, daß er zu Hause ist.«
    »Wo ist er dann? Verreist?«
    »Das weiß ich nicht genau.«
    Julian schob seine Lesebrille herunter und sah sie über die Gläser hinweg an. »Was meinen Sie damit?«
    »Wir haben ihn seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen.«
    Julians Augen weiteten sich in kindlicher, theatralischer Überraschung; nicht zum erstenmal bemerkte ich die große Ähnlichkeit mit Henry, diese gleiche seltsame Mischung aus Kälte und Wärme. »In der Tat«, sagte er. »Überaus merkwürdig. Und Sie haben keine Ahnung, wo er sein könnte?«
    Der boshafte, zum Ende hin offene Tonfall dieser Frage machte mich nervös. Ich starrte auf die wäßrig gekräuselten Lichtkreise, die eine Kristallvase auf die Tischplatte malte.
    »Nein«, sagte Henry. »Wir sind ein bißchen ratlos.«
    »Das will ich glauben.« Er blickte Henry in die Augen, lange und sonderbar.
    Er weiß es, dachte ich mit aufschäumender Panik. Er weiß, daß wir lügen. Er weiß bloß nicht, worüber wir lügen.
     
    Nach dem Mittagessen und nach meinem Französischkurs saß ich im oberen Stockwerk der Bibliothek und hatte meine Bücher vor mir auf dem Tisch ausgebreitet. Es war ein seltsamer, heller, traumartiger Tag. Der verschneite Rasen, gesprenkelt mit den spielzeughaften Gestalten ferner Menschen, war so glatt wie der Zuckerguß auf einer Geburtstagstorte. Ein winziger Hund rannte kläffend hinter einem Ball her, und aus den Puppenhauskaminen kräuselte sich echter Rauch.
    Um diese Zeit, dachte ich, vor einem Jahr ... Was hatte ich da getan? War mit dem Wagen eines Freundes nach San Francisco hinaufgefahren, hatte in den Lyrilcabteilungen der Buchhandlungen herumgestanden und mir Sorgen wegen meiner Bewerbung in Hampden gemacht. Und jetzt saß ich hier und fragte mich, ob ich vielleicht im Gefängnis landen würde.
    Nihil sub sole novum. Ein Bleistiftspitzer klagte laut irgendwo. Ich ließ den Kopf auf meine Bücher sinken – Flüstern, leise Schritte, der Geruch von altem Papier in meiner Nase. Ein paar Wochen zuvor war Henry wütend geworden, als die Zwillinge moralische Einwände gegen die Idee erhoben hatten, Bunny zu töten. »Seid nicht so albern«, hatte er gefaucht.
    »Aber wie«, hatte Charles gefragt,

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