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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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den Tränen nahe, »wie um alles in der Welt kannst du einen kaltblütigen Mord denn rechtfertigen? «
    Henry hatte sich eine Zigarette angezündet. »Ich ziehe es vor«, hatte er gesagt, »es als eine Neuverteilung der Materie zu betrachten.«
     
    Ich schrak aus dem Schlaf auf und erblickte Henry und Francis, die vor mir standen.
    »Was ist?«« fragte ich, rieb mir die Augen und sah sie an.
    »Nichts«, sagte Henry. »Kommst du mit zum Wagen?«
    Schlaftrunken folgte ich ihnen die Treppe hinunter; der Wagen parkte vor der Bibliothek.
    »Was ist denn los?« fragte ich, als wir eingestiegen waren.
    »Weißt du, wo Camilla ist?«
    »Ist sie denn nicht zu Hause?«
    »Nein. Und Julian hat sie auch nicht gesehen.«
    »Was wollt ihr denn von ihr?«
    Henry seufzte. Es war kalt im Wagen, und sein Atem bildete weiße Wölkchen. »Da ist etwas im Gange«, sagte er. »Francis und ich haben Marion vor dem Wachbüro gesehen, mit Cloke Rayburn. Sie haben mit ein paar Leuten von der Hausverwaltung gesprochen.«
    »Wann?«
    »Vor ungefähr einer Stunde.«
    »Du glaubst doch nicht, daß sie etwas unternommen haben, oder?«
    »Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagte Henry. Er schaute hinauf zum Dach der Bibliothek; es war von Eis bedeckt und glitzerte in der Sonne. »Wir wollen, daß Camilla bei Cloke vorbeigeht und herauszufinden versucht, was da los ist. Ich würde selbst hingehen, aber ich kenne ihn kaum.«
    »Und mich haßt er«, sagte Francis.
    »Ich kenne ihn ein bißchen.«
    »Aber nicht genug. Er und Charles verstehen sich ganz gut, aber ihn können wir auch nicht finden.«
    Ich schälte ein Pfefferminz von einer Rolle in meiner Tasche und fing an, darauf zu kauen.
    »Was ißt du da?« fragte Francis.
    »Rolaids.«
    »Ich nehme auch eins, wenn du gestattest«, sagte Henry. »Ich schätze, wir sollten noch mal am Haus vorbeifahren.«
     
    Diesmal kam Camilla zur Tür; sie öffnete sie nur einen Spaltbreit und spähte wachsam heraus. Henrywollte etwas sagen, aber sie warf ihm einen scharfen, warnenden Blick zu. »Hallo«, sagte sie. »Kommt rein.«
    Wir folgten ihr wortlos ins Haus und durch den dunklen Flur ins Wohnzimmer. Dort saßen Charles und Cloke Rayburn.
    Charles stand nervös auf; Cloke blieb, wo er war, und musterte uns mit schläfrigen, unergründlichen Augen. Er hatte einen Sonnenbrand und war unrasiert. Charles sah uns mit hochgezogenen Brauen an, und sein Mund formte das Wort »stoned«.
    »Hallo«, sagte Henry nach einer Pause. »Wie geht’s?«
    Cloke hustete – ein tiefes, unangenehm klingendes Krächzen – und schüttelte eine Marlboro aus der Packung vor ihm auf dem Tisch. »Nicht schlecht«, sagte er. »Und selbst?«
    »Prima.«
    Er steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel, zündete sie an und hustete wieder. »Hey«, sagte er zu mir. »Wie läuft’s so?«
    »Ganz gut.«
    »Du warst am Sonntag auf der Party in Durbinstall.«
    »Ja.«
    »Mona gesehen?« fragte er, ohne seinen Tonfall zu verändern.
    »Nein«, sagte ich schroff und war mir plötzlich bewußt, daß alle mich anschauten.
    »Mona?« fragte Charles nach verwundertem Schweigen.
    »So ’n Mädchen«, sagte Cloke. »Viertes Semester, oder so. Wohnt bei Bunny im Haus.«
    »Apropos«, sagte Henry.
    Cloke lehnte sich im Sessel zurück und fixierte Henry mit blutunterlaufenen Augen unter schweren Lidern. »Yeah«, sagte er. »Von Bun haben wir gerade gesprochen. Ihr habt ihn die letzten paar Tage nicht gesehen, was?«
    »Nein. Du?«
    Cloke sagte eine Weile gar nichts. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er heiser und langte nach einem Aschenbecher. »Ich hab’ keine Ahnung, wo, zum Teufel, er steckt. Zuletzt hab’ ich ihn Samstag abend gesehen – nicht, daß ich mir bis heute was dabei gedacht hätte oder so.«
    »Ich habe gestern abend mit Marion gesprochen«, sagte Henry.
    »Ich weiß«, sagte Cloke. »Sie macht sich irgendwie Sorgen. Ich hab’ sie heute morgen im Commons gesehen, und sie sagt, er war seit ungefähr fünf Tagen nicht mehr in seinem Zimmer. Sie dachte schon, er ist vielleicht zu Hause oder so, aber dann hat sie seinen Bruder Patrick angerufen, und der sagt, in Connecticut ist er nicht. Und sie hat mit Hugh gesprochen, und der sagt, in New York ist er auch nicht.«
    »Hat sie mit seinen Eltern gesprochen?«
    »Na, Scheiße, sie wollte ihn doch nicht in Schwierigkeiten bringen.«
    Henry schwieg für einen Moment. Dann sagte er: »Was glaubst du, wo er ist?«
    Cloke wandte den Blick ab und zuckte

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