Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
sie sah aus, als habe sie sich sehr hastig angezogen. Sie kam herein und schloß die Tür hinter sich ab, und ich stand im Bademantel da und blinzelte schlaftrunken. »Warst du heute schon draußen?« fragte sie.
Ein banges Kribbeln kroch mir im Nacken hoch. Ich setzte mich auf die Bettkante. »Nein«, sagte ich. »Wieso?«
»Ich weiß nicht, was los ist. Die Polizei redet mit Charles und Henry, und ich weiß nicht mal, wo Francis ist.«
»Was?«
»Heute morgen um sieben ist ein Polizist gekommen und hat nach Charles gefragt. Er hat nicht gesagt, was er wollte. Charles hat sich angezogen, und sie sind zusammen fort. Um acht kriegte ich einen Anruf von Henry; er fragte, ob ich was dagegen hätte, wenn er heute morgen ein bißchen später käme. Ich fragte ihn, wovon er da redete; wir hatten nämlich gar nicht vorgehabt, uns zu treffen. ›O danke‹, sagte er daraufhin, ›ich wußte, du würdest Verständnis haben; die Polizei ist nämlich hier, wegen Bunny, weißt du, und sie haben ein paar Fragen.‹«
»Er kommt sicher zurecht.«
Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar; es war eine nervöse Geste, die mich an ihren Bruder erinnerte. »Aber es ist nicht bloß das«, sagte sie. »Überall sind Leute. Reporter, Polizisten. Es ist wie in einem Irrenhaus.«
»Suchen sie ihn?«
»Ich weiß nicht, was sie machen. Anscheinend sind sie unterwegs in Richtung Mount Cataract.«
»Vielleicht sollten wir den Campus für eine Weile verlassen.«
Ihre hellen Silberaugen blickten ängstlich in meinem Zimmer umher. »Vielleicht«, sagte sie. »Zieh dich an, und dann überlegen wir, was wir machen.«
Ich war im Bad und schabte mir hastig mit dem Rasierapparat übers Gesicht, als Judy Poovey hereinkam und so eilig auf mich zustürzte, daß ich mir in die Wange schnitt. »Richard«, sagte sie und legte mir eine Hand auf den Arm, »hast du schon gehört?«
Ich berührte meine Wange, sah das Blut auf meinen Fingerspitzen und warf ihr einen wütenden Blick zu. »Was gehört?«
»Von Bunny«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und geweiteten Augen.
Ich starrte sie an und wußte nicht, was jetzt kommen würde.
»Jack Teitelbaum hat es mir erzählt. Cloke hat gestern abend mit ihm drüber geredet. Ich hab’ noch nie gehört, daß einer einfach irgendwie verschwindet. Das ist geradezu unheimlich. Und Jack sagte noch, na, wenn sie ihn bis jetzt nicht gefunden haben ... Ich meine, ich bin ganz sicher, er ist okay und alles«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie ich sie anstarrte.
Ich wußte nicht, was ich antworten sollte.
»Wenn du vorbeikommen willst oder so, ich bin zu Hause.«
»Klar.«
»Ich meine, wenn du reden willst oder so. Ich bin immer da. Komm einfach vorbei.«
»Danke«, sagte ich ein bißchen zu schroff.
Sie schaute zu mir auf, und ihre Augen waren groß von Mitgefühl, voller Verständnis für die Einsamkeit und Ungeselligkeit des Schmerzes. »Es ist bestimmt alles okay«, sagte sie, drückte meinen Arm und ging hinaus, nicht ohne in der Tür noch einmal stehenzubleiben und einen trauervollen Blick zurückzuwerfen.
Obwohl Camilla schon davon gesprochen hatte, war ich auf den Aufruhr, der draußen herrschte, nicht vorbereitet. Der Parkplatz war voll besetzt, und Leute aus Hampden Town waren überall – Fabrikarbeiter hauptsächlich, dem Aussehen nach zu urteilen, manche mit Kindern –; sie klopften mit Stöcken auf den Boden und bewegten sich langsam und in einer ungleichmäßigen auseinandergezogenen Kette auf den Mount Cataract zu, während die Studenten durcheinanderwimmelten und ihnen neugierig zuschauten. Es waren Polizisten da, Deputys und ein oder zwei berittene Polizisten; auf dem Rasen, wo zwei amtlich aussehende Fahrzeuge parkten, standen ein Rundfunkübertragungswagen, ein Imbißwagen und ein Kleinbus von »Action News Twelve«.
»Was machen all die Leute hier?« sagte ich.
»Guck«, sagte sie, »da ist Francis.«
Weit hinten in dem bunten Treiben sah ich sein rotes Haar leuchten und erkannte die auffälligen Konturen des schalumwikkelten Halses und des schwarzen Mantels. Camilla streckte die Hand in die Luft und schrie.
Er drängte sich durch eine Gruppe von Cafeteria-Kellnerinnen, die herausgekommen waren, um zu sehen, was hier los war; er rauchte eine Zigarette und hatte eine Zeitung unter dem Arm. »Hallo«, sagte er. »Ist das zu glauben?«
»Was ist los?«
»Eine Schatzsuche.«
»Was?«
»Die Corcorans haben über Nacht eine Riesenbelohnung ausgesetzt. Alle Fabriken in
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