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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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hatten Charles ja schon gesagt, daß sie ihn vielleicht noch brauchen, oder?«
    »Ja, aber Henry ...«
    »Über ihn würde ich mir nicht unnötig den Kopf zerbrechen.«
    Das Commons war überheizt und unerwartet leer. Zu dritt setzten wir uns auf eine klamme schwarze Vinylcouch und tranken unseren Kaffee. Leute gingen schlendernd ein und aus und ließen Böen von kalter Luft herein; einige kamen zu uns und fragten, ob es Neuigkeiten gebe. Judd »Party Pig« MacKenna als Präsident des Studentenrates kam mit seiner leeren Farbdose herüber und fragte, ob wir etwas für den Notfallfonds zur Suchaktion spenden wollten. Zusammen stifteten wir einen Dollar in Kleingeld.
    Wir sprachen mit George Laforgue, der uns begeistert und sehr ausführlich von einem ähnlichen Vermißtenfall in Brandeis berichtete, als plötzlich hinter ihm Henry aus dem Nichts auftauchte.
    Laforgue drehte sich um. »Oh«, sagte er kühl, als er sah, wer da war.
    Henry neigte leicht den Kopf. »Bonjour, Monsieur Laforgue«, sagte er. »Quel plaisir de vous revoir.«
    Laforgue zog mit schwungvoller Gebärde ein Taschentuch hervor und schneuzte sich, wie es schien, fünf Minuten lang. Dann faltete er penibel das Taschentuch mehrfach zu einem kleinen Viereck zusammen und verschwand.
     
    »Ich bin ein bißchen müde«, sagte Henry nachher im Wagen, »aber es gibt keinen Grund zur Beunruhigung.«
    »Was wollten sie wissen?«
    »Nicht viel. Wie lange ich ihn kenne, ob er sich merkwürdig benommen hat, ob ich einen Grund weiß, weshalb er die Schule womöglich verlassen will. Natürlich hat er sich in den letzten paar Monaten komisch benommen, und das habe ich gesagt. Aber ich habe auch gesagt, daß ich ihn in letzter Zeit nur selten gesehen habe, und das stimmt.« Er schüttelte den Kopf. »Ehrlich. Zwei Stunden. Ich weiß nicht, ob ich das Ganze über mich gebracht hätte, wenn ich gewußt hätte, auf was für einen Unfug wir uns da einlassen.«
     
    Wir fuhren bei den Zwillingen zu Hause vorbei und fanden Charles eingenickt auf dem Sofa. Er fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. Sein Gesicht war verquollen, und das geriefte Muster der Sofapolster hatte sich tief in seine Wange geprägt.
    »Wie ist es gegangen?« fragte Henry ihn.
    Charles setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Ganz gut, schätze ich. Ich sollte irgendwas unterschreiben, wo draufstand, was gestern passiert wäre.«
    »Mich haben sie auch besucht.«
    »Ach ja? Was wollten sie?«
    »Das gleiche.«
    »Waren sie nett zu dir?«
    »Nicht besonders.«
    »Gott, sie waren so nett zu mir unten auf dem Polizeirevier. Sie haben mir sogar ein Frühstück gebracht. Kaffee und Geleekringel.«
     
    Es war Freitag, und das hieß, daß wir keinen Unterricht hatten und daß Julian nicht in Hampden, sondern zu Hause war. Henry schlug vor, einmal hinzufahren und zu sehen, ob er da sei.
    Ich war noch nie bei Julian zu Hause gewesen, hatte noch nicht
einmal das Haus gesehen; ich nahm allerdings an, daß die anderen schon öfters dagewesen waren. Tatsächlich empfing Julian nicht oft Besuch – wobei Henry natürlich die vornehme Ausnahme bildete. Das war nicht so verwunderlich, wie es klingt; er wahrte behutsam, aber entschlossen einen gewissen Abstand zwischen sich und seinen Studenten, und auch wenn er uns sehr viel mehr Zuneigung entgegenbrachte, als es zwischen Lehrern und ihren Schülern sonst üblich war, pflegte er nicht einmal mit Henry eine Beziehung zwischen Gleichgestellten, und unser Unterricht bei ihm bewegte sich eher in den Bahnen einer wohlwollenden Diktatur als in denen einer Demokratie. »Ich bin Ihr Lehrer«, sagte er einmal, »weil ich mehr weiß als Sie.« Auf einer psychologischen Ebene war sein Verhalten beinahe schmerzlich intim, ansonsten aber war es geschäftsmäßig und kühl. Sein Prinzip war, uns immer nur von unserer besten Seite zu sehen und über all unsere schlechten und weniger erfreulichen Eigenschaften hinwegzusehen. Zwar empfand ich ein köstliches Vergnügen dabei, mich diesem attraktiven, wenn auch verschwommenen Image anzupassen – und irgendwann auch dabei festzustellen, daß ich mehr oder weniger die Persönlichkeit geworden war, die ich lange Zeit so geschickt gespielt hatte –, aber es bestand doch nie ein Zweifel daran, daß ihm nichts daran lag, uns in unserer Gesamtheit zu sehen – oder uns überhaupt anders zu sehen als in jener herrlichen Rolle, die er für uns erfunden hatte: genis gratus, corpore glabellus, arte multiscius, et fortuna opulentus

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