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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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eine andere Art, mit solchen Dingen umzugehen ... Edmund hat große Ähnlichkeit mit ihm, nicht wahr?«
    »Das haben die Brüder alle«, sagte Camilla.
    Julian lächelte. »Ja! Und es sind so viele! Wie in einem Märchen ...« Er sah auf die Uhr. »Du meine Güte«, sagte er. »Es ist schon so spät.«
    Francis erwachte aus seinem mürrischen Schweigen. »Wollen Sie jetzt gehen?« fragte er Julian bang. »Soll ich Sie fahren?«
    Das war ein flagranter Fluchtversuch. Henrys Nasenflügel weiteten sich, nicht so sehr vor Ärger als vielmehr in enervierter Belustigung: Er warf Francis einen niederträchtigen Blick zu. Aber Julian, der in die Ferne starrte und gar nicht wußte, welche dramatische Bedeutung seine Antwort hatte, schüttelte den Kopf.
    »Nein, vielen Dank«, sagte er. »Armer Edmund. Ich mache mir wirklich große Sorgen, wissen Sie.«
    »Denken Sie bloß, wie seinen Eltern zumute sein muß«, sagte Mrs. O’Rourke.
    »Ja«, antwortete Julian in einem Ton, der zugleich Mitgefühl und Abscheu für die Corcorans anklingen ließ.
    »Also, ich würde verrückt an deren Stelle.«
    Ganz unvermittelt überlief Julian ein Schauder, und er schlug seinen Mantelkragen hoch. »Gestern abend war ich so aufgeregt, daß ich kaum schlafen konnte«, sagte er. »Er ist ein so netter Junge, so töricht – ich habe ihn eigentlich sehr gern. Wenn ihm etwas zugestoßen sein sollte, ich weiß nicht, ob ich es ertrage.«
    Er schaute über die Hügel in die großartige, kinohafte Weite mit Menschen und Wildnis und Schnee, die uns zu Füßen lag, und obgleich sein Ton sorgenvoll klang, hatte sein Gesicht einen seltsamen, verträumten Ausdruck. Die Sache hatte ihn aufgeregt; das wußte ich, aber ich wußte auch, daß das Spektakel der Suche etwas an sich hatte, das ihn unfehlbar ansprach, und daß er eine – wenn auch obskure – Freude an der Ästhetik des Ganzen hatte.
    Henry sah es auch. »Wie etwas von Tolstoi, nicht wahr?« bemerkte er.
    Julian drehte sich um, und ich sah zu meiner Verblüffung, daß seine Miene echtes Entzücken zeigte.
    »Ja«, sagte er. »Nicht wahr?«
     
    Gegen zwei Uhr nachmittags kamen zwei Männer in dunklen Mänteln von nirgendwoher auf uns zu.
    »Charles Macaulay?« sagte der kleinere der beiden, ein tonnenförmiger Bursche mit harten, wachen Augen.
    Charles blieb neben mir stehen und sah ihn ausdruckslos an.
    Der Mann griff in seine Brusttasche und klappte eine Mappe mit seiner Dienstmarke auf. »Agent Harvey Davenport, Northeast Regional Division, FBI.«
    Einen Moment lang dachte ich, Charles werde die Fassung verlieren. »Was wollen Sie?« fragte er blinzelnd.
    »Wir möchten mit Ihnen reden, wenn Sie nichts dagegen haben.«
    »Es dauert nicht lange«, sagte der größere. Er war ein Italiener mit hängenden Schultern und einer trübsinnigen, fleischigen Nase. Seine Stimme klang sanft und angenehm.
    Henry, Francis und Camilla waren stehengeblieben und starrten die Fremden unterschiedlich interessiert und erschrocken an.
    »Außerdem«, sagte Davenport forsch, »tut es bestimmt gut, mal für ein oder zwei Minuten aus der Kälte rauszukommen. Sie frieren sich hier doch bestimmt die Eier ab, oder?«
     
    Als sie gegangen waren, wurden wir anderen fast von banger Sorge erdrückt, aber natürlich konnten wir nichts sagen, und so stapften wir einfach weiter, den Blick zu Boden gerichtet; wir wagten fast nicht aufzuschauen. Bald war es drei Uhr, dann vier. Die Sache war noch längst nicht zu Ende, aber bei den ersten vorzeitigen Anzeichen dafür, daß die Suche abgebrochen wurde, kehrten wir eilig und schweigend zum Auto zurück.
     
    »Was, glaubt ihr, wollen die von ihm?« fragte Camilla zum zehntenmal.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Henry.
    »Er hat doch schon eine Aussage gemacht.«
    »Bei der Polizei. Aber nicht bei diesen Leuten.«
    »Wo ist da ein Unterschied? Wieso wollen die noch mit ihm reden?«
    »Ich weiß es nicht, Camilla.«
     
    Als wir zur Wohnung der Zwillinge kamen, trafen wir zu unserer Erleichterung Charles dort an, allein. Er lag auf der Couch, hatte einen Drink neben sich und telefonierte mit seiner Großmutter.
    Er war ein bißchen betrunken. »Nana läßt grüßen«, sagte er zu Camilla, als er aufgelegt hatte. »Sie macht sich große Sorgen. Irgendein Käfer oder so etwas ist über ihre Azaleen hergefallen.«
    »Was hast du denn da an den Händen?« fragte Camilla scharf.
    Er streckte die Hände mit aufwärtsgewandten Handflächen von sich; sie zitterten ein bißchen. Die

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