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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Ozean. Der Hubschrauber kam von der Zentrale der New York State Police in Albany; er war, wie wir erfuhren, mit einem speziellen Infrarot-Wärmesensor ausgerüstet. Jemand hatte auch ein sogenanntes »Ultraleicht-Flugzeug« zur Verfügung gestellt, das über der Gegend dahinsegelte, knapp oberhalb der Baumwipfel. Es gab jetzt richtige Suchmannschaften und Truppführer mit Megaphonen. Welle um Welle wanderte über verschneite Hügel, und wir gingen mit.
    Maisfelder, Weiden, von dichtem Unterholz bewachsene Anhöhen. Als wir uns dem Fuß des Berges näherten, ging es zunächst bergab. Dichter Nebel lag im Tal wie in einem Kochkessel, aus dessen weißem Dampf nur die Wipfel der Bäume herausragten, kahl und dantesk. Immer weiter ging es hinunter, und die Welt versank vor unseren Blicken. Charles neben mir war mit seinen roten Wangen und seinem keuchenden Atem scharf umrissen und beinahe hyperreal, aber Henry, der ein Stück weiter unten ging, war zu einem Schemen geworden, und seine große Gestalt schien hell und seltsam stofflos durch den Nebel.
    Als es ein paar Stunden später wieder bergauf ging, trafen wir auf die Nachhut eines anderen, kleineren Suchtrupps. Dabei waren ein paar Leute, die ich mit Überraschung und einer gewissen Rührung erblickte. Martin Hoffer war da, ein alter, distinguierter Komponist, der Musik unterrichtete; die Lady mittleren Alters, die in der Mensa die Ausweise kontrollierte und die in ihrem schlichten Tuchmantel unerklärlich tragisch aussah; Dr. Roland, dessen trompetendes Nasenschneuzen selbst auf einige Entfernung noch hörbar war.
    »Guck mal«, sagte Charles, »das ist doch nicht Julian, oder?«
    »Wo?«
    »Bestimmt nicht«, meinte Henry.
    Aber er war es doch. Es war ganz typisch für ihn, daß er so tat, als sehe er uns nicht, bis wir einander so nah waren, daß er uns unmöglich noch länger ignorieren konnte. Er lauschte einer winzigen, fuchsgesichtigen Lady; ich wußte, daß sie als Hausmädchen in den Wohnheimen arbeitete.
    »Du liebe Güte«, sagte er, als sie zu Ende gesprochen hatte, und wich in gespielter Überraschung zurück, »wo kommen Sie denn her? Sie kennen Mrs. O’Rourke?«
    Mrs. O’Rourke lächelte schüchtern. »Ich habe Sie alle schon gesehen«, sagte sie. »Die Kids glauben, die Hausmädchen nehmen keine Notiz von ihnen, aber ich kenne sie alle vom Sehen.«
    »Na, das will ich auch hoffen«, sagte Charles. »Sie haben mich doch nicht vergessen, oder? Bishop House, Nummer zehn?«
    Es klang so herzlich, daß sie vor Freude errötete.
    »Natürlich«, sagte sie, »ich erinnere mich an Sie. Sie waren derjenige, der immer mit meinem Besen abgehauen ist.«
    Während dieses Wortwechsels redeten Henry und Julian leise miteinander. »Das hätten Sie mir schon eher sagen sollen«, hörte ich Julian flüstern.
    »Wir haben es Ihnen gesagt.«
    »Nun ja, aber trotzdem. Edmund hat ja schon früher einmal gefehlt.« Julian sah betroffen aus. »Ich dachte, er spielt krank. Man sagt, er sei entführt worden, aber ich denke, das ist ziemlich lächerlich. Meinen Sie nicht?«
    »Wenn es einer von meinen wäre«, meinte Mrs. O’Rourke, »dann wäre mir lieber, man hätte ihn entführt, als daß er sich sechs Tage lang in diesem Schnee herumtreibt.«
    »Nun, ich hoffe jedenfalls, daß ihm nichts passiert ist. Sie wissen, daß seine Familie hier ist, nicht wahr? Haben Sie sie gesehen?«
    »Heute noch nicht«, antwortete Henry.
    »Natürlich, natürlich«, sagte Julian hastig. Er mochte die Corcorans nicht. »Ich habe sie auch noch nicht besucht; es ist wirklich nicht die passende Zeit, sie zu stören ... Heute morgen bin ich allerdings ganz zufällig dem Vater über den Weg gelaufen, und einem der Brüder ebenfalls. Er hatte ein kleines Kind dabei. Ließ es auf seinen Schultern reiten, als wären sie unterwegs zu einem Picknick.«
    »So ein kleines Kind hat bei diesem Wetter draußen wirklich nichts verloren«, sagte Mrs. O’Rourke. »Kaum drei Jahre alt.«
    »Ja, der Meinung bin ich leider auch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man zu so einem Anlaß ein Kleinkind mitnehmen kann.«
    »Ich hätte meinen jedenfalls nicht erlaubt, so zu schreien und sich derart aufzuführen.«
    »Vielleicht war ihm kalt«, sagte Julian leise. Sein Ton barg den zarten Hinweis darauf, daß er von diesem Thema genug hatte und sich nicht länger darüber unterhalten wollte.
    Henry räusperte sich. »Haben Sie mit Bunnys Vater gesprochen?«
    »Nur ganz kurz. Er – nun, ich nehme an, jeder von uns hat

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