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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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keinen halben Meter weit von mir entfernt. Ich hätte mich für alle Ewigkeit in diesem einzigartigen kleinen Gesicht verlieren können, im Pessimismus ihres wunderschönen Mundes. Komm her, du. Laß uns das Licht ausmachen, ja? Wenn ich mir diese Sätze vorstellte, wenn ich mir vorstellte, wie sie sie sprach, dann waren sie von beinahe unerträglicher Süße; jetzt, da
ich unmittelbar neben ihr saß, war es undenkbar, daß ich sie selbst äußerte.
    Hingegen: Warum sollte es sein? Sie war am Tod zweier Menschen beteiligt gewesen; still wie eine Madonna hatte sie dabeigestanden und zugeschaut, wie Bunny starb. Ich erinnerte mich an Henrys kühle Stimme, wie er kaum sechs Wochen zuvor gesagt hatte: Die Vorgänge hatten ein bestimmtes fleischliches Element in sich, jawohl.
    »Camilla?« sagte ich.
    Sie blickte zerstreut auf.
    »Was ist wirklich passiert, in dieser Nacht im Wald?«
    Ich glaube, ich hatte, wenn schon keine echte, doch wenigstens gespielte Überraschung erwartet. Aber sie zuckte nicht mit der Wimper. »Tja, an schrecklich viel kann ich mich nicht erinnern«, sagte sie langsam. »Und das, woran ich mich erinnere, ist fast unmöglich zu beschreiben. Es ist alles viel weniger klar als noch vor ein paar Monaten. Ich hätte wohl versuchen sollen, es aufzuschreiben oder so.«
    »Aber woran erinnerst du dich?«
    Es dauerte einen Moment, ehe sie antwortete. »Na, du hast ja bestimmt alles von Henry gehört«, sagte sie. »Es klingt ein bißchen albern, schon wenn man es laut ausspricht. Ich erinnere mich an eine Hundemeute, Schlangen, die sich um meine Arme wanden. Brennende Bäume, Fichten, die aufloderten wie riesige Fackeln. Eine Zeitlang war eine fünfte Person bei uns.«
    »Eine fünfte Person?«
    »Es war nicht immer eine Person.«
    »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Du weißt, wie die Griechen Dionysos nannten. Πoλυειδής. Der Vielgestaltige. Manchmal war es ein Mann, manchmal eine Frau. Und manchmal noch etwas anderes. Ich – ich erzähle dir etwas, woran ich mich erinnern kann«, sagte sie unvermittelt.
    »Nämlich?« Ich hoffte, endlich ein wollüstiges Detail zu erfahren.
    »Der tote Mann. Er lag auf dem Boden. Sein Bauch war aufgerissen, und er dampfte.«
    »Sein Bauch?«
    »Es war eine kalte Nacht. Ich werde nie vergessen, wie es roch. Wie wenn mein Onkel früher ein Reh aufbrach. Kannst Francis fragen. Der erinnert sich auch daran.«
    Ich war zu entsetzt, um etwas zu sagen. Sie griff nach der Teekanne
und goß ihre Tasse voll. »Weißt du«, sagte sie, »warum ich glaube, daß wir diesmal solches Pech haben?«
    »Warum denn?«
    »Weil es Unglück bringt, einen Leichnam unbestattet liegenzulassen. Erinnerst du dich an den armen Palinurus in der Aeneis ? Er war noch unendlich lange da und suchte sie immer wieder heim. Den Bauern da, den haben sie gleich gefunden, weißt du. Aber ich fürchte, keiner von uns wird nachts gut schlafen, solange Bunny nicht unter der Erde ist.«
    »Das ist doch Unsinn.«
    Sie lachte. »Im vierten Jahrhundert vor Christus hat man die Ausfahrt der gesamten attischen Flotte verschoben, weil ein Soldat gehustet hatte.«
    »Du hast dich zu oft mit Henry unterhalten.«
    Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Weißt du, was Henry uns hat tun lassen, zwei Tage nach der Sache im Wald?«
    »Nein.«
    »Er ließ uns ein Ferkel schlachten.«
    Diese Mitteilung schockierte mich nicht so sehr wie die gespenstische Ruhe, mit der sie sie machte. »O mein Gott«, sagte ich.
    »Wir haben ihm die Kehle durchgeschnitten. Dann haben wir es gegenseitig über uns gehalten, so daß es uns auf Hände und Kopf blutete. Es war schrecklich. Francis ist schlecht geworden.«
    Ich hatte den Eindruck, daß es von fragwürdiger Klugheit sei, unmittelbar nach einer Mordtat freiwillig mit Blut – und wäre es auch Schweineblut – zu bekleckern, aber ich sagte nur: »Wieso wollte er das?«
    »Mord ist Verunreinigung. Der Mörder besudelt jeden, der mit ihm in Berührung kommt. Und Blut ist nur mit Blut zu reinigen. Wir ließen das Schweineblut auf uns tropfen. Dann gingen wir hinein und wuschen es ab. Danach war alles okay.«
    »Willst du mir erzählen«, sagte ich, »daß ...«
    »Oh, keine Sorge«, sagte sie hastig. »Ich glaube nicht, daß er so was diesmal auch vorhat.«
    »Wieso nicht? Hat es nicht geklappt?«
    Sie bemerkte meinen Sarkasmus nicht. »O doch«, sagte sie. »Ich denke, es hat durchaus geklappt.«
    »Und warum dann nicht noch mal?«
    »Weil Henry, glaube ich, das

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