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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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sich gegenüber und vermieden es peinlichst, einander anzusehen. Marion – rotäugig und mit heißen Lockenwicklern im Haar – war ebenfalls mürrisch und schweigsam. Sie trug ein sehr adrettes Matrosenkostüm, aber flauschige pinkfarbene Pantoffeln über den fleischfarbenen Nylons. Ab und zu hob sie die Hände und betastete die Lockenwickler, um festzustellen, ob sie schon abgekühlt waren.
    Henry war als einziger unter uns als Sargträger vorgesehen – die anderen fünf waren Freunde der Familie oder Geschäftspartner von Mr. Corcoran. Ich fragte mich, ob der Sarg wohl schwer war, und wenn ja, ob Henry die Last zu tragen vermöchte. Zwar verströmte er einen schwachen Ammoniakdunst von Schweiß und Scotch, aber er sah überhaupt nicht betrunken aus. Die Tabletten hatten ihn in eine abgrundtiefe, gläserne Ruhe versenkt. Es war ein Zustand, der verdächtig narkotisiert hätte erscheinen können, wenn er seinem gewohnten Verhalten nicht so ähnlich gewesen wäre.
    Nach der Küchenuhr war es kurz nach halb zehn. Die Beerdigung war für elf Uhr angesetzt. Francis verschwand, um sich anzuziehen, und Marion, um ihre Lockenwickler herauszunehmen. Wir übrigen saßen immer noch um den Küchentisch, beklommen und träge, und taten, als tränken wir genüßlich unsere zweite und dritte Tasse Kaffee, als Teddys Frau hereinmarschiert kam. Sie war eine hübsche Schadenersatzanwältin mit hartem Gesicht, die ständig rauchte und das blonde Haar zum Bubikopf frisiert trug. Bei ihr war Hughs Frau, eine kleine, sanfte Frau, die viel zu jung und zierlich aussah, um so viele Kinder zur Welt gebracht zu haben, wie sie tatsächlich hatte. Ein unglücklicher Zufall wollte es, daß sie beide Lisa hießen, was für einige Verwirrung im Hause sorgte.
    »Henry«, sagte Lisa, die Anwältin, beugte sich über den Tisch und rammte ihre halb aufgerauchte Vantage in den Aschenbecher, daß sie rechtwinklig herausragte. Ihr Parfüm war »Giorgio«, und sie hatte zuviel davon aufgelegt. »Wir fahren jetzt zur Kirche, um die Blumen im Chorraum zu arrangieren und die Karten einzusammeln, bevor der Gottesdienst anfängt. Teds Mutter« – beide Lisas hegten eine Abneigung gegen Mrs. Corcoran, die indessen von Herzen erwidert wurde – »meint, Sie sollten mit uns hinüberfahren, damit Sie sich mit den anderen Sargträgern treffen können. Okay?«
    Henry ließ nicht erkennen, daß er sie gehört hatte. Das Licht blitzte auf dem Stahlgestell seiner Brille. Ich wollte ihm unter dem Tisch einen Tritt geben, als er sehr langsam aufblickte.
    »Warum?« fragte er.
    »Die Sargträger sollen sich um Viertel nach zehn im Vestibül treffen.«
    »Warum?« wiederholte Henry mit wedischer Ruhe.
    »Ich weiß nicht, warum. Ich sage Ihnen nur, was sie gesagt hat. Der ganze Kram hier ist geplant wie ein verdammtes Synchronschwimmen oder so was. Sind Sie startbereit, oder brauchen Sie noch einen Moment?«
    »Also, Brandon«, sagte Hughs Frau in kraftlosem Ton zu ihrem kleinen Sohn, der in die Küche gekommen war und jetzt versuchte, wie ein Affe am Arm seiner Mutter zu schaukeln. »Bitte. Du tust deiner Mutter weh. Brandon .«
    »Lisa, du solltest ihm nicht erlauben, so an dir rumzuhängen«, sagte Lisa, die Anwältin, und sah auf die Uhr.
    »Bitte , Brandon. Mutter muß jetzt gehen.«
    »Er ist zu groß für dieses Benehmen. Das weißt du. Ich an deiner Stelle würde mit ihm ins Bad gehen und ihn in Stücke reißen.«
     
    Mrs. Corcoran kam ungefähr zwanzig Minuten später herunter; sie wühlte in einer kleinen Handtasche aus gestepptem Leder. »Wo sind alle?« fragte sie, als sie nur noch Camilla, Sophie Dearbold und mich sah. Wir standen müßig vor der Trophäenvitrine.
    Als niemand antwortete, blieb sie verärgert auf der Treppe stehen. »Nun?« sagte sie. »Sind alle schon weg? Wo ist Francis?«
    »Ich glaube, er zieht sich gerade an«, sagte ich, froh, daß sie eine Frage gestellt hatte, die ich beantworten konnte, ohne zu lügen. Von der Treppe, auf der sie stand, konnte sie nicht sehen, was wir ganz deutlich durch die Glastür im Wohnzimmer sehen konnten: Cloke und Bram und Rooney und auch Charles standen unter einem Vordach auf der Terrasse und rauchten einen Joint. Es war merkwürdig, ausgerechnet Charles kiffen zu sehen; ich konnte es mir nur damit erklären, daß er glaubte, es werde ihn stärken, wie es ein harter Drink tun würde. Wenn das der Grund war, dann stand ihm zweifellos eine scheußliche Überraschung bevor. Mit zwölf, dreizehn Jahren

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