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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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geöffnet würde, damit ich hineingehen, telefonieren und eine Tasse Kaffee trinken könnte.
    Der Angestellte, ein dicker Mann mit leblosen Augen, kam um sechs und schloß die Tür auf. Wir waren die einzigen dort. Ich ging auf die Herrentoilette, wusch mir das Gesicht und trank zwei Tassen Kaffee, die der Schalterangestellte mir mürrisch aus einer Kanne verkaufte, die er hinter der Theke auf einer Herdplatte aufgebrüht hatte.
    Inzwischen war die Sonne aufgegangen, aber es war schwer, durch die dreckverschmierten Fenster etwas zu sehen. Die Wände waren mit ungültig gewordenen Fahrplänen tapeziert; Zigarettenstummel und Kaugummis waren tief ins Linoleum eingetreten. Die Tür der Telefonzelle war von Fingerabdrücken übersät. Ich schloß sie hinter mir und wählte Henrys Nummer; halb rechnete ich damit, daß er sich nicht melden würde, aber nach dem zweiten Klingeln nahm er ab.
    »Wo bist du? Was ist los?« fragte er.
    Ich berichtete, was passiert war. Ominöses Schweigen am anderen Ende.
    »War er allein in einer Zelle?« fragte er schließlich.
    »Ich weiß es nicht.«
    »War er bei Bewußtsein? Ich meine, konnte er sprechen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Wiederum langes Schweigen.
    »Hör mal«, sagte ich, »er wird um neun dem Richter vorgeführt. Warum treffen wir uns nicht am Gericht?«
    Henry antwortete nicht gleich. Dann sagte er: »Am besten, du kümmerst dich um die Sache. Da sind noch andere Überlegungen zu berücksichtigen.«
    »Wenn es noch andere Überlegungen zu berücksichtigen gibt, dann wäre ich dir sehr verbunden, wenn ich erfahren könnte, welche das sind.«
    »Sei nicht sauer«, sagte er rasch. »Es ist nur, daß ich so viel mit der Polizei zu tun hatte. Sie kennen mich, und ihn kennen sie auch. Außerdem« – er zögerte –, »ich fürchte, ich bin der letzte, den Charles zu sehen wünscht.«
    »Und warum?«
    »Weil wir gestern abend einen Streit hatten. Es ist eine lange Geschichte«, fuhr er fort, als ich ihn unterbrechen wollte. »Aber er war sehr aufgebracht, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Von uns allen, glaube ich, hast du zur Zeit das beste Verhältnis zu ihm.«
    »Hmph«, sagte ich, aber insgeheim war ich besänftigt.
    »Charles mag dich sehr gern. Das weißt du. Außerdem weiß die Polizei nicht, wer du bist. Ich halt’ es nicht für wahrscheinlich, daß sie dich mit dieser anderen Geschichte in einen Zusammenhang bringen.«
    »Ich wüßte nicht, wieso das jetzt noch von Bedeutung sein sollte.«
    »Ich fürchte, es ist noch von Bedeutung. Von größerer Bedeutung, als du vielleicht denkst.«
    Schweigen folgte, und dabei empfand ich akut, wie hoffnungslos alle Versuche waren, mit Henry jemals einer Sache auf den Grund zu kommen. Er war wie ein Propagandist, der routiniert Informationen zurückhielt und nur das durchsickern ließ, was seinen Absichten nützte. »Was willst du damit sagen?« fragte ich.
    »Dies ist nicht der richtige Augenblick, um darüber zu sprechen.«
    »Wenn du willst, daß ich noch mal hingehe, solltest du mir lieber sagen, wovon du redest.«
    Als er antwortete, klang seine Stimme knisternd und fern. »Sagen wir, eine Zeitlang stand es wirklich auf Messers Schneide, und zwar mehr, als dir klar war. Charles hat es schwer gehabt. Es kann
eigentlich niemand etwas dazu, aber er hat mehr als nur seinen Teil der Last tragen müssen.«
    Schweigen.
    »So viel ist es doch nicht, was ich von dir verlange.«
    Nur, daß ich tue, was du sagst , dachte ich, als ich auflegte.
     
    Der Gerichtssaal lag am Ende des Korridors. Er sah ganz so aus wie alles andere hier im Gerichtsgebäude: erbaut um 1950, mit zerfurchten Linoleumfliesen und einer vergilbten Holztäfelung, deren honigfarbener Lack klebrig aussah.
    Ich hatte nicht damit gerechnet, daß so viele Leute dasein würden. Vor der Richterbank standen zwei Tische; an einem saßen zwei Verkehrspolizisten, am anderen drei oder vier schwer einzuordnende Männer. Eine Gerichtsschreiberin mit ihrer komischen kleinen Schreibmaschine war da, außerdem saßen drei weitere Unbekannte ziemlich weit auseinander im Zuschauerraum, und dann war da noch eine arme, ausgemergelte Lady in einem braunen Regenmantel, die aussah, als werde sie ziemlich regelmäßig von jemandem verprügelt.
    Wir standen auf, als der Richter hereinkam. Charles’ Fall wurde als erster verhandelt.
    Er kam wie ein Schlafwandler auf Strümpfen durch die Tür getappt, dicht gefolgt von einem Gerichtsbeamten. Sein Gesicht war dick verquollen. Sie hatten ihm

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