Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
nicht nur die Schuhe, sondern auch Gürtel und Krawatte abgenommen, und er sah ein bißchen aus wie im Schlafanzug.
Der Richter, ein Mann von etwa sechzig Jahren mit saurer Miene und mit dem schmalen Mund und den dicken, fleischigen Lefzen eines Bluthunds, spähte zu ihm herunter. »Sie haben einen Anwalt?« fragte er mit starkem Vermonter Akzent.
»Nein, Sir«, sagte Charles.
»Ehefrau oder Eltern anwesend?«
»Nein, Sir.«
»Können Sie Kaution stellen?«
»Nein, Sir.« Charles sah verschwitzt und desorientiert aus.
Ich stand auf. Charles sah mich nicht, aber der Richter. »Sind Sie hier, um die Kaution für Mr. Macaulay zu stellen?« fragte er.
»Jawohl.«
Charles drehte sich um und starrte mich mit offenem Mund an; sein Gesichtsausdruck war leer und tranceartig wie bei einem Zwölfjährigen.
»Das macht fünfhundert Dollar. Sie können am Schalter zahlen, den Gang hinunter links«, sagte der Richter gelangweilt und monoton. »Sie müssen in zwei Wochen wieder hier erscheinen, und ich schlage vor, daß Sie dann einen Anwalt mitbringen. Haben Sie einen Beruf, für den Sie Ihr Fahrzeug benötigen?«
Einer der schäbig aussehenden Männer mittleren Alters, die vorn saßen, meldete sich. »Der Wagen gehört ihm nicht, Euer Ehren.«
Der Richter funkelte Charles an; er sah plötzlich wütend aus. »Ist das korrekt?« fragte er.
»Mit dem Eigentümer wurde bereits Kontakt aufgenommen. Ein Henry Winter. Besucht das College oben. Er sagt, er hat Mr. Macaulay den Wagen für den Abend geliehen.«
Der Richter schnaubte. Barsch sagte er zu Charles: »Ihr Führerschein ist bis zum Abschluß des Verfahrens vorläufig eingezogen; sorgen Sie dafür, daß Mr. Winter am Achtundzwanzigsten hier erscheint.«
Die ganze Sache ging erstaunlich schnell. Um zehn nach neun verließen wir das Gerichtsgebäude.
Es war ein taufeuchter Morgen, kalt für Mai. Vögel zwitscherten in den schwarzen Baumwipfeln. Ich war benommen vor lauter Müdigkeit.
Charles schlang die Arme um die Schultern. »Gott, ist das kalt«, sagte er.
Auf der anderen Seite der leeren Straße, auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, gingen bei der Bank soeben die Jalousien hoch. »Warte hier«, sagte ich. »Ich rufe uns ein Taxi.«
Er faßte mich beim Arm. Er war immer noch betrunken, aber seine Saufnacht schien nur seine Kleidung mitgenommen zu haben. Sein Gesicht jedenfalls war frisch und gerötet wie das eines Kindes. »Richard«, sagte er.
»Was?«
»Du bist mein Freund, oder?«
Ich hatte keine Lust, auf der Gerichtstreppe herumzustehen und mir dieses Zeug anzuhören. »Na klar«, sagte ich und versuchte, ihm meinen Arm zu entwinden.
Aber er hielt mich nur um so fester. »Guter alter Richard«, sagte er. »Ich weiß, daß du das bist. Ich bin so froh, daß du es warst, der gekommen ist. Aber du mußt mir einen ganz kleinen Gefallen tun.«
»Welchen?«
»Bring mich nicht nach Hause.«
»Wie meinst du das?«
»Bring mich aufs Land. Zu Francis. Ich hab’ zwar den Schlüssel nicht, aber Mrs. Hatch könnte mich reinlassen, oder ich könnte ein Fenster einschlagen oder so was – nein, paß auf . Hör zu. Ich könnte durch den Keller einsteigen. Hab’ ich schon eine Million Male gemacht. Warte«, sagte er, als ich versuchte, ihn zu unterbrechen. »Du könntest doch auch mitkommen. Du könntest bei der Schule vorbeifahren und dir ein paar Sachen holen, und dann ...«
»Stop«, sagte ich zum drittenmal. »Ich kann dich überhaupt nirgends hinbringen. Ich habe nämlich kein Auto.«
Seine Miene veränderte sich, und er ließ meinen Arm los. »Oh, richtig«, sagte er mit plötzlicher Verbitterung. »Vielen herzlichen Dank auch.«
»Hör zu. Ich kann nicht. Ich habe kein Auto. Ich bin mit einem Taxi hergekommen.«
»Wir können mit Henrys Wagen fahren.«
»Nein, das können wir nicht. Die Polizei hat die Schlüssel.«
Seine Hände zitterten. Er fuhr sich damit durch das wirre Haar. »Dann komm mit mir nach Hause. Ich will nicht allein nach Hause.«
»Also schön«, sagte ich. Ich war so müde, daß ich Flecken vor den Augen sah. »Also schön. Warte. Ich rufe ein Taxi.«
»Nein. Kein Taxi«, sagte er und wankte zurück. »Ich fühl’ mich nicht so toll. Ich glaube, ich möchte lieber laufen.«
Die Strecke von der Gerichtstreppe zu Charles’ Wohnung in North Hampden war nicht zu verachten. Mindestens drei Meilen, und ein guter Teil davon führte an einem Highway entlang.
Autos rauschten in Strömen von Auspuffdunst vorüber.
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