Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
gelaufen waren, als ich zum Gebäude der Naturwissenschaften ging, um Henry anzurufen. Ich erinnere mich nur noch an eins, nämlich an den letzten Satz, der mir als einziges einen Stich versetzte: »Bitte helfen Sie Mir, darum schreibe ich Ihnen, Sie Sind der Einzige der das kann.«
»Na, ich weiß ja nicht, wer das geschrieben hat«, sagte Francis schließlich obenhin und absolut beiläufig, »aber wer immer es war, von Rechtschreibung hat er keinen Schimmer.«
Julian lachte. Ich wußte, er ahnte nicht einmal, daß der Brief echt war.
Francis nahm den Brief und blätterte ihn nachdenklich durch. Bei dem vorletzten Blatt – das von etwas anderer Farbe war als die anderen – hielt er inne und drehte es wie absichtslos um. »Mir scheint, daß ...« Er brach ab.
»Was scheint Ihnen?« fragte Julian freundlich.
Nach einer kurzen Pause fuhr Francis fort. »Mir scheint, daß derjenige, der das geschrieben hat, ein neues Farbband gebrauchen könnte«, sagte er; aber das war nicht das, was er dachte oder was ich dachte oder was er hatte sagen wollen. Denn das war ihm völlig entfallen, als er das anders gefärbte Blatt umwandte und wir beide entsetzt sahen, was sich auf der Rückseite befand. Es war nämlich ein Blatt Hotelpapier, auf dem oben eingeprägt die Adresse und der Briefkopf des Excelsior prangte: des Hotels, in dem Bunny und Henry in Rom gewohnt hatten. Offensichtlich war ihm das Papier ausgegangen, und er hatte seinen Schreibtisch durchwühlt, bis er dieses etwa ebenso große Blatt gefunden hatte, das er dann auf der Rückseite beschrieben hatte.
Ich versuchte, nicht hinzuschauen, aber immer wieder schob es sich seitlich in mein Gesichtsfeld. Ein Palast, in blauer Farbe gedruckt, mit einer fließenden Schrift, wie man sie auf italienischen Speisekarten findet. Ein blauer Rand um den Bogen. Ganz unverkennbar.
»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen«, sagte Julian, »ich habe den Brief nicht einmal zu Ende gelesen. Offensichtlich ist der dafür Verantwortliche ziemlich gestört. Man kann es natürlich nicht sagen, aber ich denke, ein anderer Student muß der Schreiber sein. Meinen Sie nicht auch?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mitglied des Lehrkörpers so etwas schreiben könnte, wenn Sie das meinen«, sagte Francis und drehte den Briefbogen wieder um. Wir sahen uns nicht an; ich wußte genau, was er dachte: Wie können wir dieses Blatt stehlen? Wie können wir es wegschaffen?
Um Julians Aufmerksamkeit abzulenken, ging ich zum Fenster. »Es ist schön heute, nicht wahr?« sagte ich und drehte beiden den Rücken zu. »Es ist kaum zu glauben, daß noch vor einem Monat Schnee gelegen hat ...« Ich plapperte immer weiter; ich merkte kaum, was ich sagte, und wagte nicht, mich umzudrehen.
»Ja«, sagte Julian höflich. »Ja, es ist schön draußen.« Seine Stimme kam nicht von da, wo ich ihn vermutete, sondern von weiter her, aus der Nähe des Bücherschrankes. Ich drehte mich um und sah, daß er den Mantel anzog. Francis sah ich am Gesicht an, daß er keinen Erfolg gehabt hatte. Er war halb abgewandt und beobachtete Julian aus dem Augenwinkel; als Julian sich umdrehte, um zu husten, sah es einen Moment lang so aus, als würde er es schaffen, aber er hatte das Blatt gerade herausgezogen, als Julian sich wieder umwandte, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als es wieder zurückzuschieben, als wären die einzelnen Blätter in Unordnung geraten, und er ordne sie nun wieder.
Julian lächelte uns von der Tür aus an. »Sind Sie so weit, meine Jungen?«
»Natürlich«, sagte Francis, und ich wußte, ihm war längst nicht so begeistert zumute, wie er sich anhörte. Er legte den Brief zusammengefaltet auf den Tisch, und wir beide folgten Julian hinaus, lächelnd, plaudernd, aber ich sah die Anspannung in Francis’ Schultern und biß mir selbst vor lauter Frustration auf die Innenseite der Unterlippe.
Das Mittagessen verlief elend. Ich kann mich an fast keine Einzelheit erinnern – außer, daß es ein strahlender Tag war und wir zu nah am Fenster saßen, so daß das grelle Licht, das mir in die Augen schien, nur meine Verwirrung und mein Unbehagen verstärkte. Und die ganze Zeit redeten wir über den Brief, den Brief, den Brief. Hegte der Absender einen Groll gegen Julian? Oder war jemand wütend auf uns? Francis war gefaßter als ich, aber er kippte ein Glas Hauswein nach dem anderen herunter, und feiner Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Julian hielt den Brief für eine Fälschung. Das war
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