Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
redest du?« fragte ich. »Natürlich hab’ ich die.«
»Ach ja?« Er zog eine Braue hoch. »Ich glaube nicht. Ist aber auch nicht wichtig«, sagte er nach einer langen angespannten Pause. »Ich habe auch keine.«
»Worauf willst du hinaus?«
Er zuckte die Achseln. »Auf nichts weiter. Nur, daß mein Leben zum überwiegenden Teil ziemlich schal und farblos geworden ist. Tot, meine ich. Die Welt war für mich immer ein leerer Ort. Ich war außerstande, mich an den einfachsten Dingen zu freuen. Ich fühlte mich tot bei allem, was ich tat.« Er streifte sich die Erde von den Händen. »Aber dann wurde es anders«, sagte er. »In der Nacht, als ich diesen Mann umbrachte.«
Ich war entsetzt – und auch ein bißchen bestürzt – über die ganz und gar unverblümte Erwähnung eines Sachverhalts, der einer stillschweigenden Übereinkunft gemäß nahezu ausschließlich mit Codes, Stichwörtern und hundert verschiedenen Euphemismen bezeichnet wurde.
»Es war die wichtigste Nacht meines Lebens«, sagte er ruhig. »Sie hat mich befähigt, zu tun, was ich mir immer am meisten gewünscht habe.«
»Und das wäre?«
»Zu leben, ohne zu denken.«
Bienen summten laut im Geißblatt. Er wandte sich wieder seinem Rosenstrauch zu und dünnte die kleineren Zweige an der Spitze aus.
»Vorher war ich gelähmt, obwohl ich es eigentlich nicht wußte«, sagte er. »Es lag daran, daß ich zuviel dachte, zuviel im Geist lebte. Es war schwer, Entscheidungen zu treffen. Ich fühlte mich erstarrt.«
»Und jetzt?«
»Jetzt«, sagte er, »jetzt weiß ich, daß ich alles tun kann, was ich will.« Er blickte auf. »Und wenn ich mich nicht sehr irre, hast du etwas sehr Ähnliches erfahren.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Oh, aber ich glaube, du weißt es doch. Diese Woge von Macht und Entzücken, von Zuversicht und Herrschaft. Das plötzliche Gefühl für die Vielfalt der Welt. Ihre unbegrenzten Möglichkeiten.« Er sprach von der Schlucht. Und zu meinem Entsetzen begriff ich, daß er recht hatte. So grauenhaft es gewesen war, es war doch nicht zu leugnen, daß der Mord an Bunny alle folgenden Ereignisse gleichsam in ein gleißendes Technicolor getaucht hatte. Und auch wenn diese neue Klarheit der Sicht häufig nervenaufreibend war, so war doch ebensowenig zu leugnen, daß das Gefühl nicht völlig unangenehm war.
»Ich verstehe nicht, was das mit irgendwas zu tun haben soll«, sagte ich zu seinem Rücken.
»Ich bin auch nicht sicher, daß ich es verstehe«, sagte er und begutachtete dabei die Ausgewogenheit seines Rosenstrauchs; dann entfernte er sehr sorgfältig noch einen Trieb in der Mitte. »Außer, daß es kaum etwas gibt, was besonders wichtig wäre. Die letzten sechs Monate haben das gezeigt. Und in letzter Zeit erscheint es wichtig, ein oder zwei Dinge zu finden, die es doch sind. Das ist alles.«
Während er das sagte, verlor er sich in Gedanken. »So«, sagte er schließlich. »Sieht es so gut aus? Oder muß ich es in der Mitte noch ein bißchen öffnen?«
»Henry«, sagte ich, »hör doch.«
»Ich will nicht zuviel wegnehmen«, sagte er unbestimmt. »Ich hätte das schon vor einem Monat tun sollen. Die Triebe bluten, wenn man sie so spät zurückschneidet – aber besser spät als nie, wie man so sagt.«
»Henry. Bitte .« Ich war den Tränen nahe. »Was ist los mit dir? Bist du verrückt geworden? Begreifst du nicht, was hier los ist?«
Er stand auf und klopfte sich die Hände an der Hose ab. »Ich muß jetzt ins Haus«, sagte er.
Ich sah zu, wie er die Schere an einen Haken hängte und davonging. Am Ende dachte ich, würde er sich umdrehen und noch etwas sagen – auf Wiedersehen oder sonst irgend etwas. Aber er tat es nicht. Er ging ins Haus. Die Tür schloß sich hinter ihm.
In Francis’ Apartment war es dunkel. Rasiermesserfeine Lichtstreifen strahlten durch die Schlitze der geschlossenen Jalousien. Er schlief. Es roch sauer in der Wohnung, nach Asche, Zigarettenstummel schwammen in einem Ginglas. Im Lack des Nachttisches an seinem Bett war ein schwarzer, blasiger Brandfleck.
Er zog die Jalousien hoch, um etwas Sonne hereinzulassen. Er rieb sich die Augen und redete mich mit einem fremden Namen an. Dann erkannte er mich. »Oh«, sagte er; sein Gesicht war zerknautscht und albinobleich. »Du . Was machst du hier?«
Ich erinnerte ihn daran, daß wir uns verabredet hatten, Charles zu besuchen.
»Welcher Tag ist heute?«
»Freitag.«
»Freitag.« Er ließ sich ins Bett zurückfallen. »Ich
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