Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
diesen Augenblick erwählte sich Charles, um krachend zur Tür hereinzupoltern.
Nach ein, zwei taumelnden Schritten schaute er sich um. Er war in diesem Augenblick, technisch gesehen, vielleicht nicht betrunken, aber er war es vor so kurzer Zeit noch gewesen, daß der Unterschied von akademischem Interesse war. Das Hemd hing ihm aus der Hose, und die Haare fielen ihm in langen, schmutzigen Strähnen über die Augen.
»Was denn?« sagte er nach einigen Augenblicken. »Wo ist Julian?«
»Klopfen Sie nicht an?« fragte der Dekan.
Charles drehte sich schwankend um und sah ihn an.
»Was ist?« fragte er. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Ich«, sagte der Dekan honigsüß, »bin der Studiendekan.«
»Was haben Sie mit Julian gemacht?«
»Er hat Sie verlassen. Gewissermaßen im Stich gelassen, wenn ich das so sagen darf. Er wurde sehr plötzlich aufs Land gerufen und weiß nicht – oder hat noch nicht darüber nachgedacht –, wann er zurückkommt.« Er lachte beifällig und konsultierte dann wieder sein Papier. »Jedenfalls. Ich habe verabredet, daß der Lehrer aus Hackett morgen um fünfzehn Uhr herkommt, um sich hier mit Ihnen zu treffen. Ich hoffe, es gibt für keinen von Ihnen Terminkonflikte. Sollte es doch der Fall sein, wären Sie gut beraten, Ihre Prioritäten noch einmal zu überdenken, weil er nur dieses eine Mal zur Verfügung steht, um Ihnen Antwort auf alle Ihre ...«
Ich wußte, Camilla hatte Charles seit über einer Woche nicht mehr gesehen, und ich wußte, sie konnte nicht darauf vorbereitet sein, daß er dermaßen schlecht aussah; aber sie starrte ihn weniger überrascht als vielmehr mit panischem Grauen an. Sogar Henry wirkte entsetzt.
» ... und selbstverständlich erfordert diese Lösung auch einen, sagen wir, kompromißbereiten Geist auf Ihrer Seite, da ja ...«
»Was?« unterbrach Charles ihn. »Was haben Sie gesagt? Sie sagen, Julian ist weg ?«
»Ich gratuliere Ihnen, junger Mann, zu Ihrer vorzüglichen Beherrschung der englischen Sprache.«
»Was ist passiert? Er hat einfach gepackt und ist abgehauen?«
»Kurz gesagt, ja.«
Es trat eine kurze Pause ein. Dann sagte Charles mit lauter, klarer Stimme: »Henry, wieso glaube ich aus irgendeinem Grunde, daß das nur deine Schuld ist?«
Darauf folgte ein langes, nicht allzu angenehmes Schweigen. Dann wirbelte Charles herum, stürmte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
Der Dekan räusperte sich.
»Wie ich soeben sagte ...«, fuhr er fort.
Es ist seltsam, aber wahr, daß ich zu diesem Zeitpunkt immer noch in der Lage war, über die Tatsache, daß meine Karriere in Hampden
weitgehend den Bach hinuntergegangen war, bestürzt zu sein. Als der Dekan von »zwei Semestern zusätzlich«, gesprochen hatte, war mir das Blut in den Adern gefroren. Ich wußte so sicher, wie die Nacht auf den Tag folgt, daß ich meine Eltern unter keinen Umständen dazu würde bringen können, ihren dürftigen, aber absolut notwendigen Beitrag noch ein weiteres Jahr zu leisten. Ich hatte durch den dreimaligen Wechsel meines Hauptfaches und durch den Umzug von Kalifornien bereits Zeit verloren, und ich würde noch mehr Zeit verlieren, wenn ich noch einmal wechselte – vorausgesetzt, eine andere Schule würde mich mit meinen durchwachsenen Zeugnissen, meinen durchwachsenen Leistungen überhaupt nehmen und ich würde ein weiteres Stipendium bekommen. Warum, fragte ich mich, oh, warum war ich so töricht gewesen; warum hatte ich mich nicht für etwas entschieden und war dann dabei geblieben? Wie konnte es möglich sein, daß ich jetzt am Ende meines dritten Jahres am College angelangt war und im Grunde nichts vorzuweisen hatte?
Was mich noch wütender machte, war die Tatsache, daß es die anderen anscheinend überhaupt nicht zu kümmern schien. Ihnen, das wußte ich, machte es nicht das geringste aus. Was machte es schon, wenn sie durchs Examen fielen, wenn sie nach Hause fahren mußten? Zumindest hatten sie ein Zuhause. Sie hatten Treuhandfonds, Taschengeld, Dividendenschecks, liebevolle Großmütter, Onkel mit guten Beziehungen, liebende Familien. Das College war nur eine Station am Wege, eine Art jugendlicher Zerstreuung. Aber für mich war es die Hauptchance, die einzige. Und ich hatte sie verpatzt.
Ich verbrachte hektische zwei Stunden damit, in meinem Zimmer auf und ab zu gehen – das heißt, ich hatte mir angewöhnt, es als »mein Zimmer« zu betrachten, aber das war es eigentlich nicht; ich mußte es in drei Wochen räumen, und schon jetzt
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