Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
schien es sich mit einer herzlos unpersönlichen Atmosphäre zu füllen – und eine Notiz an die Fördergeldstelle zu entwerfen. Die einzige Möglichkeit, noch an mein Abschlußexamen zu gelangen – letzten Endes die einzige Möglichkeit, die Mittel zu bekommen, mir auf eine halbwegs erträgliche Weise meinen Lebensunterhalt zu verdienen -, bestand darin, daß Hampden sich bereit fand, für dieses zusätzliche Jahr die gesamten Ausbildungskosten für mich zu tragen. Ich wies ein bißchen aggressiv darauf hin, daß es nicht meine Schuld sei, wenn Julian beschlossen habe zu gehen. Ich führte jede einzelne jämmerliche Belobigung und Prämie auf, die ich seit der
achten Klasse gewonnen hatte. Ich argumentierte, daß ein einjähriges Studium der klassischen Sprachen für diesen nunmehr höchst erstrebenswerten Kurs in englischer Literatur nur zuträglich und bereichernd sein könne.
Schließlich, als mein Bittantrag vollendet und meine Handschrift zu einem leidenschaftlichen Kritzeln geworden war, fiel ich ins Bett und schlief ein. Um elf wachte ich wieder auf, nahm noch ein paar Veränderungen an meinem Antrag vor und ging in den rund um die Uhr geöffneten Arbeitsraum, um ihn zu tippen. Unterwegs ging ich am Postzimmer vorbei, wo mich zu meiner ungeheuren Genugtuung eine Notiz in meinem Fach davon in Kenntnis setzte, daß ich den Job als Hüter des Apartments in Brooklyn bekommen hatte und daß der Professor sich irgendwann in der nächsten Woche mit mir treffen wollte, um die Einzelheiten zu besprechen.
So, dachte ich, damit ist der Sommer erledigt.
Es war eine schöne Nacht – Vollmond, die Wiese wie Silber, und die Häuserfronten warfen kantige schwarze Schatten, scharf wie Scherenschnitte. Die meisten Fenster waren dunkel: Alles schlief, war früh zu Bett gegangen. Ich lief quer über den Rasen zur Bibliothek, wo die Lichter des Nachtarbeitsraums – »Das Haus des Ewigen Lernens« hatte Bunny es in glücklicheren Tagen genannt – klar und hell im oberen Stockwerk brannten und gelb durch die Baumwipfel funkelten. Ich stieg die Außentreppe hinauf – eine Eisentreppe wie eine Feuerleiter, wie die Treppe in meinem Alptraum –, und das Klappern meiner Schuhe auf dem Metall hätte mir, wäre ich weniger abgelenkt gewesen, die Haare zu Berge stehen lassen.
Dann erblickte ich durch das Fenster eine dunkle Gestalt im schwarzen Anzug, allein. Es war Henry. Bücher türmten sich vor ihm, aber er arbeitete nicht. Er starrte stier vor sich hin. Aus irgendeinem Grund mußte ich an jene Februarnacht denken, als ich ihn im Schatten unter dem Fenster von Dr. Rolands Büro hatte stehen sehen, dunkel und einsam, die Hände in den Manteltaschen, während der Schnee hoch im leeren Lichtschein der Straßenlaternen wirbelte.
Ich trat ein und schloß die Tür. »Henry«, sagte ich. »Henry, ich bin’s.«
Er drehte sich nicht um. »Ich war eben bei Julian zu Hause«, sagte er monoton.
Ich setzte mich. »Und?«
»Es ist alles abgeschlossen. Er ist weg.«
Es war lange still.
»Es fällt mir sehr schwer, zu glauben, daß er das wirklich getan hat, weißt du.« Das Licht blinkte an seiner Brille. Sein Haar glänzte dunkel; es war ebenso schwarz wie sein Gesicht bleich. »Es ist einfach so feige. Deshalb ist er nämlich fortgegangen, weißt du. Weil er Angst hatte.«
Die Fenster waren offen. Der feuchte Wind raschelte in den Bäumen. Dahinter segelten Wolken am Mond vorbei, schnell und wild.
Henry nahm die Brille ab. Ich konnte mich nie daran gewöhnen, ihn ohne sie zu sehen – an den nackten, verletzlichen Anblick, den er dann immer bot.
»Er ist ein Feigling«, sagte er. »In unserer Lage hätte er genau das gleiche getan wie wir. Er ist nur ein solcher Heuchler, daß er es nicht zugibt.«
Ich schwieg.
»Es kümmert ihn nicht einmal, daß Bunny tot ist. Ich könnte ihm vergeben, wenn er deshalb so empfinden würde, aber das ist es nicht. Ihn würde es nicht kümmern, wenn wir ein halbes Dutzend Leute umgebracht hätten. Ihn interessiert nur, daß sein eigener Name nicht in die Sache hineingerät. Das ist im wesentlichen das, was er mir sagte, als ich gestern abend mit ihm sprach.«
»Du warst bei ihm?«
»Ja. Man hätte hoffen mögen, daß die Angelegenheit für ihn mehr als nur eine Frage des eigenen Wohlbefindens gewesen wäre. Selbst wenn er uns angezeigt hätte, hätte das eine gewisse Charakterstärke gezeigt – nicht, daß ich angezeigt werden wollte. Aber das hier ist nichts als Feigheit. So
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