Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
was du jede Nacht mit meiner Schwester machst?«
Ich erinnere mich, daß ich als Kind einmal gesehen habe, wie mein Vater meine Mutter ohne jeden vernünftigen Grund schlug. Obwohl er das gleiche auch manchmal mit mir tat, war mir nicht klar, daß es aus blanker Übellaunigkeit geschah; ich glaubte, daß seine vorgeschützten Begründungen (»Du redest zuviel«; »Guck mich nicht so an«) diese Strafe irgendwie rechtfertigen. Aber an dem Tag, als ich ihn meine Mutter schlagen sah (nachdem sie ganz unschuldig bemerkt hatte, daß die Nachbarn an ihrem Haus einen Anbau vornehmen wollten – später sollte er behaupten, sie habe ihn provoziert, und es sei ein Vorwurf wegen seines Unvermögens, es zu Geld zu bringen, gewesen, was sie dann tränenreich bestätigte), wurde mir klar, daß der kindliche Eindruck eines »gerechten Gesetzgebers«, den mein Vater immer auf mich gemacht hatte,
völlig falsch war. Wir waren restlos abhängig von diesem Mann, der nicht nur ein größenwahnsinniger Ignorant, sondern in jeder Hinsicht inkompetent war. Und mehr noch, ich wußte, daß meine Mutter unfähig war, sich gegen ihn zu behaupten. Es war, als komme man ins Cockpit eines Flugzeugs und finde Pilot und Kopilot besinnungslos betrunken auf ihren Sitzen. Und als wir jetzt draußen vor dem Hörsaalgebäude standen, erfüllte mich plötzlich ein schwarzes, fassungsloses Grauen, ganz ähnlich dem, das ich mit zwölf gefühlt hatte, damals auf einem Barhocker in unserer sonnigen kleinen Küche in Plano. Wer hat hier das Kommando? dachte ich entsetzt. Wer fliegt dieses Flugzeug?
Und dabei sollten Charles und Henry in weniger als einer Woche zusammen vor Gericht erscheinen, wegen der Sache mit Henrys Auto.
Camilla, das wußte ich, war krank vor Sorgen. Sie – bei der ich nie erlebt hatte, daß sie sich vor irgend etwas gefürchtet hätte –, sie hatte jetzt Angst; und obgleich mich ihre Not in einer perversen Weise freute, war es nicht zu leugnen: Wenn Henry und Charles – die praktisch jedesmal kurz vor einer Prügelei standen, wenn sie zusammen in einem Zimmer waren – gezwungenermaßen vor einem Richter erschienen, und zwar in demonstrativer Freundschaft vereint, konnte das nur in eine Katastrophe münden.
Henry hatte sich einen Anwalt aus der Stadt genommen. Die Hoffnung, daß ein Außenstehender die Differenzen zwischen den beiden würde ausgleichen können, hatte bei Camilla ein wenig Optimismus aufkommen lassen – aber am Nachmittag des Termins bekam ich einen Anruf von ihr.
»Richard«, sagte sie. »Ich muß mit dir und Francis sprechen.«
Ihr Ton machte mir angst. Als ich in Francis’ Wohnung kam, fand ich ihn zutiefst erschüttert und Camilla in Tränen aufgelöst.
Ich hatte sie bis dahin nur einmal weinen sehen, und da, glaube ich, auch nur aus nervöser Erschöpfung. Aber diesmal war es anders. Sie blickte leer und hohläugig, und ihre Miene war verzeifelt. Tränen rollten ihr über die Wangen.
»Camilla«, sagte ich, »was ist los?«
Sie antwortete nicht sofort. Sie rauchte eine Zigarette, dann noch eine. Nach und nach erfuhr ich die Geschichte. Henry und Charles waren zu dem Anwalt gegangen, und Camilla war als Friedensstifterin mitgekommen. Anfangs hatte es ausgesehen, als werde doch noch alles gut. Henry hatte den Anwalt anscheinend
nicht ausschließlich aus altruistischen Motiven engagiert, sondern weil der Richter, vor dem sie erscheinen sollten, in dem Ruf stand, bei Trunkenheit am Steuer ziemlich scharf zu verfahren; deshalb war es möglich – da Charles weder einen gültigen Führerschein besaß, noch von Henrys Versicherung abgedeckt wurde –, daß Henry seinen Führerschein oder sein Auto oder beides los würde. Charles sah sich zwar offensichtlich als Märtyrer in der ganzen Angelegenheit, war aber gleichwohl bereit gewesen mitzugehen: nicht, wie er jedem erzählte, der es hören wollte, aus Zuneigung zu Henry, sondern weil er es satt habe, sich Dinge vorwerfen zu lassen, für die er nichts könne, und wenn Henry seinen Führerschein abgenommen bekäme, würde er sich das in alle Ewigkeit anhören müssen.
Aber das Treffen war eine Katastrophe. In der Anwaltskanzlei zeigte Charles sich mürrisch und wortkarg. Das war nur peinlich, aber dann – als der Anwalt ihn ein bißchen zu energisch zum Reden drängte – verlor er ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung den Kopf. »Du hättest ihn hören sollen«, sagte Camilla. »Er sagte zu Henry, von ihm aus könnten sie ihm den Wagen
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