Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
drei oder vier Schritt weit auseinander. Das Ganze führte zu einer noch längeren – schwer zu verfolgenden und für mich zutiefst langweiligen – Debatte darüber, ob Hesiods urzeitliches Chaos einfach leerer Raum oder ein Chaos im modernen Sinne des Wortes bedeutete. Camilla legte eine Josephine-Baker-Platte auf, und Bunny aß mein Lammkotelett.
Ich ging früh. Francis und Henry erboten sich beide, mich nach Hause zu fahren, und aus irgendwelchen Gründen fühlte ich mich daraufhin noch mieser. Ich sagte ihnen, ich würde lieber zu Fuß gehen, vielen Dank, und verdrückte mich lächelnd aus der Wohnung, praktisch im Delirium und mit glühenden Wangen angesichts ihrer kollektiven Blicke voller kühler, neugieriger Fürsorge.
Es war nicht weit bis zur Schule – eine Viertelstunde vielleicht –, aber es war kalt, und ich hatte Kopfschmerzen, und der ganze Abend hatte ein durchdringendes Gefühl der Unzulänglichkeit, ja, des Versagens in mir hinterlassen, das ich mit jedem Schritt schärfer empfand. Unablässig ging ich den Abend in Gedanken durch, hin und her, und bemühte mich, mir genaue Formulierungen, verräterische Untertöne, subtile Beleidigungen oder Freundlichkeiten in Erinnerung zu rufen, die mir vielleicht entgangen waren, und mein Geist lieferte mir – höchst bereitwillig – die unterschiedlichsten Verzerrungen.
Als ich in mein Zimmer kam, lag es silbern und fremdartig im Licht des Mondes; das Fenster war noch offen, und der Parmenides lag aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, wo ich ihn liegengelassen hatte; ein halb getrunkener Kaffee aus der Snackbar stand daneben, kalt im Styroporbecher. Es war kühl im Zimmer, aber ich schloß das Fenster nicht. Statt dessen legte ich mich aufs Bett, ohne die Schuhe auszuziehen, ohne das Licht anzuknipsen.
Ich lag auf der Seite und starrte in eine Pfütze von weißem Mondlicht auf dem Holzfußboden, und eine Windbö ließ die Gardinen hereinwehen, lang und fahl wie Geister. Als blättere eine unsichtbare Hand in dem Buch, flatterten die Seiten des Parmenides hin und her.
Ich hatte nur ein paar Stunden schlafen wollen, aber als ich am nächsten Morgen aufschrak, schien die Sonne ins Zimmer, und die Uhr zeigte fünf vor neun. Ohne mich erst zu rasieren oder zu kämmen oder auch nur die Kleider vom letzten Abend zu wechseln, raffte ich mein griechisches Prosa-Übungsbuch und meinen Liddell and Scott an mich und eilte im Laufschritt zu Julians Büro.
Mit Ausnahme von Julian, der immer darauf achtete, daß er ein paar Minuten zu spät kam, waren alle schon da. Auf dem Korridor hörte ich sie schon reden, aber als ich die Tür öffnete, verstummten sie und schauten mich an.
Einen Moment lang sprach keiner ein Wort. Dann sagte Henry: »Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, antwortete ich. Im klaren Licht des Nordens sahen sie alle frisch aus, gut ausgeruht, erstaunt über mein Aussehen; sie starrten mich an, als ich mir befangen mit der Hand durchs Haar fuhr.
»Sieht aus, als ob du heute morgen noch keinen Rasierapparat zu Gesicht bekommen hättest, Alter«, sagte Bunny. »Sieht aus ...«
Die Tür ging auf, und Julian kam herein.
Es gab an diesem Tag im Unterricht eine Menge zu tun, vor allem für mich, der ich so weit zurück war; dienstags und donnerstags mochte es angenehm sein, herumzusitzen und über Literatur oder über Philosophie zu reden, aber der Rest der Woche wurde auf griechische Grammatik und Satzbildung verwendet, und das war zum größten Teil brutale, knüppelharte Arbeit, eine Arbeit, zu der ich mich heute – da ich älter bin und nicht mehr ganz so ausdauernd – kaum noch würde zwingen können. Außerdem bedrückten mich eine Menge anderer Dinge; die Kälte, die meine Klassenkameraden anscheinend von neuem befallen hatte, die frostige Solidarität, die sie an den Tag legten, die Kühle, mit der ihre Blicke durch mich hindurchzugehen schienen. Da war eine Öffnung in ihren Reihen gewesen, aber die hatte sich wieder geschlossen; ich war, wie es schien, wieder genau da, wo ich angefangen hatte.
An diesem Nachmittag ging ich zu Julian unter dem Vorwand, mit ihm über die Zahlungsweise der Kursgebühren zu reden; tatsächlich aber hatte ich etwas ganz anderes auf dem Herzen. Denn mir schien es plötzlich so, als sei meine Entscheidung, alles andere zugunsten des Griechischen aufzugeben, übereilt und töricht gewesen und aus lauter falschen Gründen zustande gekommen. Was hatte ich mir vorgestellt! Griechisch gefiel mir, und
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