Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Julian gefiel mir, aber ich war nicht sicher, daß seine Studenten mir auch gefielen – und überhaupt, hatte ich wirklich vor, meine College-Laufbahn und in der Folge dann auch mein Leben damit zu verbringen, Bilder von zerbrochenen kouroi zu betrachten und über griechischen Partikeln zu brüten? Zwei Jahre zuvor hatte ich eine ähnlich kopflose Entscheidung getroffen, die mich in eine alptraumhafte,
einjährige Tretmühle voller chloroformierter Kaninchen und Tagesausflüge ins Leichenschauhaus gestürzt hatte und der ich nur mit knapper Not überhaupt wieder entronnen war. Das hier war nicht annähernd so schlimm (mit Schaudern erinnerte ich mich an mein altes Zoologielabor um acht Uhr morgens, an die Bottiche, in denen die Schweineföten dümpelten), nicht annähernd – sagte ich mir – so schlimm. Aber trotzdem kam es mir vor wie ein großer Fehler, und jetzt war das Semester zu weit fortgeschritten, als daß ich meine alten Kurse wieder hätte aufnehmen oder meinen Studienberater erneut hätte wechseln können.
Vermutlich war ich zu Julian gegangen, um meine wankende Zuversicht neu zu beleben, in der Hoffnung, er werde mir dazu verhelfen, daß ich mich wieder so sicher fühlte wie an jenem ersten Tag. Und ich bin ziemlich sicher, genau das hätte er auch getan, wenn ich nur bis zu ihm gekommen wäre. Aber wie es sich fügte, kam ich gar nicht erst dazu, mit ihm zu sprechen. Als ich die Treppe zu seinem Büro hinaufgestiegen war, hörte ich Stimmen im Korridor und blieb stehen.
Es waren Julian und Henry. Keiner der beiden hatte mich die Treppe heraufkommen hören. Henry ging gerade; Julian stand in der offenen Tür. Er hatte die Stirn gerunzelt und sah sehr ernst aus, als habe er etwas von tiefster Bedeutung zu sagen. In der eitlen – oder eher paranoiden – Annahme, sie redeten über mich, ging ich noch einen Schritt weiter und spähte, soweit ich es riskieren konnte, um die Ecke.
Julian hatte zu Ende gesprochen. Er schaute einen Moment beiseite, biß sich dann auf die Unterlippe und blickte zu Henry auf.
Dann sprach Henry. Er sprach leise, aber bedacht und deutlich. »Sollte ich tun, was nötig ist?«
Zu meiner Überraschung nahm Julian Henrys beide Hände in seine eigenen. »Sie sollten immer nur tun, was nötig ist«, sagte er.
Was zum Teufel ist hier los? dachte ich. Ich blieb oben an der Treppe stehen, bemühte mich, kein Geräusch zu machen, wollte verschwinden, bevor sie mich sahen, wagte aber nicht, mich zu rühren.
Zu meiner ganz und gar grenzenlosen Überraschung beugte Henry sich vor und gab Julian einen schnellen kleinen, geschäftsmäßigen Kuß auf die Wange. Dann wandte er sich zum Gehen, aber zu meinem Glück schaute er sich noch einmal um und sagte
ein paar letzte Worte; ich schlich mich die Treppe hinunter, so leise ich konnte, und fing an zu rennen, als ich auf dem nächsten Absatz und außer Hörweite war.
Die Woche, die darauf folgte, war einsam und unwirklich. Das Laub wechselte die Farbe; es regnete viel und wurde früh dunkel; im Monmouth House versammelten sich die Bewohner auf Strümpfen unten vor einem Kamin, in dem sie Feuerholz verbrannten, das im Schutze der Nacht aus dem Fakultätsgebäude gestohlen worden war, und tranken heißen Cidre. Aber ich ging geradewegs zum Unterrricht und geradewegs zurück nach Monmouth und hinauf in mein Zimmer, vorbei an diesen heimeligen Kaminszenen, und sprach mit kaum einer Menschenseele, auch nicht mit den Zutraulicheren, die mich herunterbitten wollten, damit ich an diesem gemeinschaftlichen Studentenheimvergnügen teilnähme.
Vermutlich war ich, nachdem der Reiz des Neuen abgeklungen war, nur ein bißchen deprimiert wegen der rettungslosen Fremdartigkeit des Ortes, an dem ich mich befand – in einem fremden Land mit fremden Sitten und Menschen und unberechenbarem Wetter. Ich glaubte krank zu sein, aber ich glaube nicht, daß ich es wirklich war; mir war bloß dauernd kalt, und ich konnte nicht schlafen – manchmal schlief ich nur ein oder zwei Stunden in der Nacht.
Nichts macht so einsam oder orientierungslos wie die Schlaflosigkeit. Ich verbrachte die Nächte damit, daß ich bis vier Uhr morgens Griechisch las, bis mir die Augen brannten und mein Kopf sich drehte, bis in Monmouth House kein Licht mehr brannte außer meinem eigenen. Wenn ich mich auf das Griechische nicht mehr konzentrieren konnte und das Alphabet sich in unzusammenhängende Dreiecke und Mistgabeln verwandelte, las ich Der große Gatsby . Es ist eins
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