Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Zimmer wiederfinden.
Plötzlich blieb Camilla stehen und legte einen Finger an die Lippen. Auf einem toten Baum, den der Blitz entzweigespalten hatte, hockten drei große, schwarze Vögel, zu groß für Krähen. Solche hatte ich noch nie gesehen.
»Raben«, sagte Charles.
Wir blieben stocksteif stehen und beobachteten sie. Einer von
ihnen hüpfte schwerfällig ans Ende eines Astes, der dabei unter seinem Gewicht knarzte und wippte, und schnellte sich dann krächzend in die Luft. Die anderen beiden folgten mit knatterndem Flügelschlag. Sie segelten in Dreiecksformation über die Wiese, drei dunkle Schatten auf dem Gras.
Charles lachte. »Drei von ihnen für drei von uns. Das ist ein Zeichen, darauf wette ich.«
»Ein Omen.«
»Wofür?« fragte ich.
»Ich weiß nicht«, sagte Charles. »Henry ist der Ornithomantist. Der Vogelflugbeschauer.«
»Er ist solch ein alter Römer«, sagte Camilla. »Er würde es wissen.«
Wir waren umgekehrt; auf dem Gipfel einer Anhöhe sah ich die Giebel von Monmouth House düster in der Ferne. Der Himmel war kalt und leer. Eine Mondsichel wie die weiße Wurzel eines Daumennagels schwebte im Dämmer. Ich war dieses triste Herbstzwielicht nicht gewohnt, diese kalte, frühe Dunkelheit; die Nacht kam so schnell, und die Stille, die sich abends über die Wiesen senkte, erfüllte mich mit einer seltsamen, bebenden Traurigkeit. Schwermütig dachte ich an Monmouth House: leere Korridore, alte Glaslampen, der Schlüssel, der sich im Schloß meiner Zimmertür drehte.
»Na, wir sehen uns später«, sagte Charles, als wir vor der Haustür von Monmouth House standen, und sein Gesicht war bleich im Schein der Verandalampe.
Weit hinten sah ich die Lichter in der Mensa, dem Commons gegenüber; ich sah dunkle Silhouetten, die sich an den Fenstern vorbei bewegten.
»Es war nett«, sagte ich und bohrte die Hände in die Hosentaschen. »Kommt ihr mit mir zum Abendessen?«
»Leider nicht. Wir müssen nach Hause.«
»Nun ja«, sagte ich enttäuscht, aber erleichtert. »Ein andermal.«
»Na, weißt du ... ?« sagte Camilla zu Charles.
Er runzelte die Stirn. »Hmnn«, sagte er. »Du hast recht.«
»Komm mit zu uns zum Essen«, sagte Camilla und wandte sich impulsiv zu mir.
»O nein«, antwortete ich sofort.
»Bitte.«
»Nein, vielen Dank. Es ist schon in Ordnung, wirklich.«
»Ach, komm«, sagte Charles freundlich. »Wir haben nichts Besonderes, aber wir würden uns freuen, wenn du kommst.«
Ich empfand eine Aufwallung von Dankbarkeit. Ich wollte ja gern mitgehen, sogar sehr gern. »Wenn es bestimmt keine Umstände macht ...« sagte ich.
»Überhaupt keine Umstände«, sagte Camilla. »Gehen wir.«
Charles und Camilla bewohnten ein möbliertes Apartment im zweiten Stock eines Hauses in North Hampden. Wenn man eintrat, befand man sich gleich in einem kleinen Wohnzimmer mit schrägen Wänden und Gaubenfenstern. Die Sessel und das wulstige Sofa waren mit staubigen Brokatstoffen bezogen und an den Armlehnen fadenscheinig: Rosenmuster auf braunem, Ahorn- und Eichenblätter auf stumpfgrünem Hintergrund. Überall lagen verschlissene Deckchen, dunkel vom Alter. Auf dem Sims über dem Kamin (der, wie ich später herausfand, nicht funktionierte) glitzerten zwei Bleikristalleuchter und ein paar schwarz angelaufene Silberteller.
Es war nicht wirklich chaotisch, aber beinahe. Bücher stapelten sich auf jeder verfügbaren Fläche; die Tische waren übersät von Papier, Aschenbechern, Whiskeyflaschen, Pralinenschachteln; Schirme und Galoschen versperrten den Durchgang in der kleinen, Diele. In Charles’ Zimmer waren Kleider auf dem Teppich verstreut, und ein reichhaltiges Gewirr von Krawatten hing an der Tür des Kleiderschrankes. Auf Camillas Nachttisch war ein Durcheinander von leeren Teetassen, klecksenden Federhaltern, welken Ringelblumen in einem Wasserglas, und auf dem Fußende ihres Bettes lag eine halbvollendete Patience. Das Apartment war sehr eigenartig geschnitten; es gab unerwartete Fenster, Gänge, die nirgends hinführten, niedrige Türen, bei denen ich mich ducken mußte, um durchzugehen, und wohin ich auch schaute, sah ich eine neue Absonderlichkeit: ein altes Stereoptikon (Palmenalleen in einem geisterhaften Nizza, die in sepiafarbene Fernen führten), Pfeilspitzen in einem verstaubten Etui, ein Elchgeweihfarn, ein Vogelslcelett.
Charles ging in die Küche und fing an, Schränke auf- und zuzumachen. Camilla goß mir irischen Whiskey aus einer Flasche ein, die auf einem Stapel
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