Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
unsere Zwecke gerade richtig. Mein Vater ist da unten an irgendeinem Landerschließungsprojekt beteiligt. Wir hätten keine Mühe gehabt, eine Unterkunft zu finden.«
»Wußte er davon?« fragte ich. »Dein Vater?«
»Irgendwann hätte er es erfahren. Tatsächlich hatte ich gehofft, ich könnte dich bitten, dich mit ihm in Verbindung zu setzen, wenn wir unten wären. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert wäre, hätte er uns helfen und uns, falls nötig, vielleicht sogar aus dem Land holen können. Er kennt Leute da unten, Leute in der Regierung. Ansonsten würde niemand etwas wissen.«
»Das würde er für dich tun?«
»Mein Vater und ich stehen einander nicht besonders nahe«, sagte Henry. »Aber ich bin sein einziges Kind.« Er trank seinen Scotch aus und ließ das Eis im Glas klappern. »Aber wie auch immer ... ich hatte zwar nicht genug Bargeld, aber meine Kreditkarten waren mehr als hinreichend, und so hatte ich nur das Problem, eine Summe aufzutreiben, die groß genug war, um eine Weile davon zu leben. Und hier kam Francis ins Spiel. Er und seine Mutter leben von den Einkünften aus einem Treuhandvermögen, wie du vermutlich weißt, aber sie haben außerdem das Recht, pro Jahr bis zu drei Prozent vom Grundkapital abzuheben, und das beliefe sich auf eine Summe von etwa hundertfünfzigtausend Dollar. Meistens wird diese Möglichkeit nicht genutzt, aber theoretisch können sie beide ans Geld, wenn sie wollen. Eine Anwaltsfirma in Boston ist Treuhänder; am Donnerstag morgen kamen wir aus dem Landhaus für ein paar Minuten nach Hampden, damit die
Zwillinge und ich unsere Sachen holen konnten, und dann fuhren wir alle nach Boston und stiegen im Parker House ab. Das ist ein hübsches Hotel; kennst du es? Nicht? Dickens hat da gewohnt, wenn er in Amerika war.
Jedenfalls ... Francis hatte einen Termin bei seinen Anwälten, und die Zwillinge mußten ein paar Dinge bei der Paßbehörde klären. Es erfordert mehr Planung, als du vielleicht glaubst, einzupacken und das Land zu verlassen, aber es war alles weitgehend erledigt; wir wollten am nächsten Abend abreisen, und anscheinend gab es nichts, was noch hätte schiefgehen können. Ein bißchen beunruhigt waren wir wegen der Zwillinge, aber natürlich wäre es auch kein Problem gewesen, wenn sie zehn Tage hätten warten müssen und uns dann gefolgt wären. Ich hatte selbst auch ein paar Dinge zu regeln, aber nicht viele, und Francis hatte mir versichert, um das Geld zu holen, brauche er nichts weiter zu tun, als in die Stadt zu gehen und ein paar Papiere zu unterzeichnen. Seine Mutter würde natürlich merken, daß er es abgehoben hatte, aber was konnte sie machen, wenn er einmal weg war?
Aber er kam nicht zurück, wie er es versprochen hatte. Drei Stunden vergingen, dann vier. Die Zwillinge kamen, und wir drei hatten uns gerade einen Lunch aufs Zimmer bestellt, als Francis halb hysterisch hereinplatzte. Das Geld für dieses Jahr war bereits abgehoben, weißt du. Seine Mutter hatte am Ersten des Jahres jeden verfügbaren Cent vom Grundkapital abgeholt und ihm nichts davon gesagt. Es war eine unangenehme Überraschung, aber in Anbetracht der Umstände war es noch unangenehmer. Er hatte alles versucht, was ihm eingefallen war – sich auf das Treuhandvermögen Geld zu leihen, ja sogar, seine Ansprüche abzutreten, was, wenn du irgend etwas von Treuhandfonds verstehst, ungefähr das Verzweifeiste ist, was einer tun kann. Die Zwillinge waren dafür, weiterzumachen und es einfach zu riskieren. Aber ... es war eine schwierige Situation. Wenn wir einmal abgereist wären, könnten wir nicht mehr zurückkommen – und überhaupt, was sollten wir denn tun, wenn wir dort wären? In einem Baumhaus leben wie Wendy und die Verlorenen Kinder?« Er seufzte. »Da saßen wir nun, die Koffer gepackt, die Pässe in Ordnung – und hatten kein Geld. Ich meine, buchstäblich kein Geld. Zusammengenommen hatten wir alle vier knapp fünftausend Dollar. Es gab eine ziemliche Diskussion, aber am Ende entschieden wir, daß uns nichts anderes übrigblieb, als nach Hampden zurückzukehren. Vorläufig wenigstens.«
Er erzählte das alles ganz ruhig, aber mir wuchs ein Kloß im Magen, während ich ihm zuhörte. Ich hatte immer noch ein völlig verworrenes Bild von der Sache, aber was ich sah, gefiel mir überhaupt nicht. Lange Zeit sagte ich gar nichts; ich betrachtete nur die Schatten, die die Lampe an die Decke warf.
»Henry, mein Gott«, sagte ich schließlich. Meine Stimme klang
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