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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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fuhr er fort, »wir glaubten nicht. Und der Glaube war die eine Bedingung, die absolut notwendig war. Glaube und absolute Hingabe.«
    Ich wartete, daß er weiterredete.
    »In diesem Augenblick, mußt du verstehen, waren wir kurz davor aufzugeben«, berichtete er ruhig. »Das Unternehmen war interessant gewesen, aber so interessant nun auch wieder nicht; außerdem war es ziemlich mühselig. Du ahnst nicht, wie oft du uns fast erwischt hättest.«
    »Nicht?«
    »Nein.« Er nahm einen Schluck Whiskey. »Vermutlich erinnerst du dich nicht, daß du einmal nachts auf dem Land gegen drei herunterkamst«, sagte er. »In die Bibliothek, um dir ein Buch zu holen. Wir hörten dich auf der Treppe. Ich versteckte mich hinter dem Vorhang; ich hätte die Hand ausstrecken und dich anfassen können, wenn ich gewollt hätte. Einmal bist du aufgewacht, ehe wir nach Hause kamen. Wir mußten uns durch die Hintertür ins Haus schleichen und die Treppe hinaufhuschen wie Einbrecher – es war alles ziemlich mühselig, dauernd barfuß im Dunkeln herumzuschleichen. Außerdem wurde es kalt. Es heißt, die oreibasia fand mitten im Winter statt, aber ich wage zu behaupten, daß es um diese Jahreszeit auf dem Peleponnes um einiges milder ist als in Vermont.
    Aber nun hatten wir so lange daran gearbeitet, und im Lichte unserer Erkenntnis erschien es sinnlos, es nicht noch einmal zu versuchen, bevor das Wetter umschlug. Alles wurde plötzlich ernst. Wir fasteten drei Tage lang, länger als je zuvor. Ein Bote kam im Traum zu mir. Alles ging wunderbar, und ich hatte ein Gefühl, das ich noch nie gehabt hatte: daß die Wirklichkeit selbst sich um uns herum auf eine schöne und gefährliche Weise veränderte, daß wir von einer Macht vorangetrieben wurden, die wir nicht verstanden, auf ein Ziel zu, das wir nicht kannten.« Er griff wieder nach seinem Glas. »Das einzige Problem war Bunny. Er begriff auf eine fundamentale Weise nicht, daß die Dinge sich in entscheidender Weise geändert hatten. Wir waren näher dran als je zuvor, und es kam auf jeden Tag an; es war bereits schrecklich kalt, und wenn es schneite – was jeden Tag passieren konnte –, dann würden wir bis zum Frühling warten müssen. Ich konnte den Gedanken nicht
ertragen, daß er die Sache nach allem, was wir getan hatten, in letzter Minute verderben würde. Und ich wußte, daß er es tun würde. Im entscheidenden Moment würde er anfangen, irgendeinen dämlichen Witz zu erzählen, und alles ruinieren. Am zweiten Tag hatte ich ernste Zweifel, und dann, am Nachmittag vor der entscheidenden Nacht, sah Charles ihn im Commons, wie er ein überbackenes Käsesandwich und einen Milkshake verzehrte. Das reichte. Wir beschlossen, ohne ihn zu verschwinden. Am Wochenende hinauszugehen war zu riskant, denn du hattest uns schon ein paarmal fast ertappt; deshalb waren wir immer donnerstags spätabends hinausgefahren und am nächsten Morgen gegen drei oder vier Uhr zurückgekommen. Aber diesmal fuhren wir schon früh, vor dem Abendessen, und wir sagten ihm kein Wort.«
    Er zündete sich eine Zigarette an, und es trat eine lange Pause ein.
    »Und?« sagte ich schließlich. »Was dann?«
    Er lachte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    »Was meinst du damit?«
    »Ich meine, daß es funktionierte.«
    »Es funktionierte ?«
    »Unbedingt.«
    »Aber wie könnte ... ?«
    »Es funktionierte.«
    »Ich glaube, ich verstehe nicht, was du meinst, wenn du sagst, es ›funktionierte‹.«
    »Ich meine es in einem ganz buchstäblichen Sinn.«
    »Aber wie?«
    »Es war prachtvoll. Fackelschein, Schwindel, Gesang. Wolfsgeheul ringsumher, ein Stier brüllte im Dunkeln. Der Fluß schäumte weiß. Ich weiß noch, daß ich dachte, es sei wie ein Film im Zeitraffer; der Mond nahm zu und wieder ab, und Wolken jagten über den Himmel. Ranken wuchsen aus dem Boden, so schnell, daß sie sich wie Schlangen um die Bäume drehten. Es war, als sei ich ein Baby. Ich wußte meinen Namen nicht mehr. Meine Fußsohlen gingen in Fetzen, und ich spürte es nicht.«
    »Aber das sind doch fundamental sexuelle Rituale, oder nicht?«
    Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Er zuckte nicht mit der Wimper, sondern wartete, daß ich weiterredete.
    »Na? Etwa nicht?«
    Er beugte sich vor, um die Zigarette in den Aschenbecher zu legen. »Natürlich«, sagte er liebenswürdig, so kühl wie ein Priester
in seinem dunklen Anzug mit der asketischen Brille. »Das weißt du ebenso gut wie ich.«
    Wir saßen da und schauten einander

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