Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
ermitteln – Hymnen, heilige Gegenstände, was man anzieht und sagt und tut. Schwieriger war das Mysterium selbst: Wie versetzte man sich in einen solchen Zustand? Was war der Katalysator?« Seine Stimme klang träumerisch und amüsiert. »Wir haben alles ausprobiert. Alkohol, Drogen, Gebete, sogar kleine Dosen Gift. In der Nacht unseres ersten Versuchs haben wir uns einfach betrunken, bis wir in unseren Chitonen im Wald bei Francis’ Haus wegdämmerten.«
»Ihr habt Chitone getragen?«
»Ja«, sagte Henry ungeduldig. »Alles im Interesse der Wissenschaft. Wir haben sie aus Bettlaken von Francis’ Dachboden gemacht. Jedenfalls ... in der ersten Nacht passierte überhaupt nichts; wir hatten nur einen Kater und waren ganz steif, weil wir auf der Erde geschlafen hatten. Beim nächsten Mal tranken wir deshalb nicht mehr so viel, aber dann waren wir doch wieder mitten in der Nacht auf dem Hügel hinter Francis’ Haus, betrunken in unseren Chitonen, und sangen griechische Hymnen wie bei einer Initiationsfeier für irgendeine Studentenverbindung, und plötzlich fing Bunny so heftig an zu lachen, daß er hintenüberkippte wie ein Kegel und den Hang hinunterrollte.
Es war ziemlich klar, daß Alkohol allein nicht genügte. Du meine Güte, ich kann dir gar nicht sagen, was wir alles ausprobiert haben. Nachtwachen. Fasten. Trankopfer. Ich kriege Depressionen, wenn ich nur daran denke. Wir verbrannten Schierlingszweige und atmeten den Rauch ein. Ich weiß, daß die Pythia Lorbeerblätter kaute, aber das funktionierte auch nicht. Du hast diese Lorbeerblätter gesehen, wenn du dich erinnerst – auf dem Herd in Francis’ Küche.«
Ich starrte ihn an. »Wieso wußte ich denn nichts davon?«
Henry zog eine Zigarette aus der Tasche. »Also wirklich«, sagte er, »ich denke, das ist doch wohl klar.«
»Was meinst du?«
»Selbstverständlich hatten wir nicht vor, dir etwas zu erzählen. Wir kannten dich ja kaum. Du hättest uns für verrückt gehalten.« Er schwieg einen Moment. »Weißt du, wir hatten ja so gut wie keinen Anhaltspunkt«, sagte er. »Ich vermute, in gewisser Weise habe ich mich durch Berichte über die Pythia in die Irre führen lassen, über das pneuma enthusiastikon, giftige Dämpfe und so weiter. Diese Prozesse sind zwar skizzenhaft, aber doch ganz gut dokumentiert – besser als die bacchischen Methoden, und ich dachte eine Zeitlang, zwischen beidem müßte ein Zusammenhang bestehen. Erst nach einer langen Reihe von gescheiterten Versuchen wurde klar, daß es diesen Zusammenhang nicht gab und daß wir etwas übersehen hatten, was aller Wahrscheinlichkeit nach ganz simpel war. Und das war es auch.«
»Und was war es?«
»Nur dies: Um den Gott zu empfangen – bei diesem wie bei jedem anderen Mysterium –, muß man in einem Zustand der euphemia sein, der kultischen Reinheit. Das ist der Kern des bacchantischen Mysteriums. Sogar Platon spricht davon. Ehe das Göttliche die Macht übernehmen kann, muß das sterbliche Ich – der Staub, aus dem wir sind, der Teil, der zerfällt – so rein wie möglich werden.«
»Und wie gelingt das?«
»Durch symbolische Akte, die in der griechischen Welt zumeist universell sind. Wasser, das über den Kopf gegossen wird, Bäder, Fasten – Bunny war nicht so gut im Fasten und bei den Bädern auch nicht, wenn du mich fragst. Aber wir anderen vollzogen diese Handlungen einfach. Je länger wir sie indessen vollführten, desto bedeutungsloser erschienen sie uns, bis mir eines Tages eine ziemlich naheliegende Erkenntnis kam – nämlich, daß jedes religiöse Ritual beliebig ist, solange man nicht durch es hindurch auf einen tieferen Sinn blicken kann.« Er hielt kurz inne. »Weißt du«, fragte er dann, »was Julian über die Göttliche Komödie sagt?«
»Nein, Henry, das weiß ich nicht.«
»Daß sie unverständlich für einen Nichtchristen ist? Daß einer, der Dante lesen und verstehen will, Christ werden muß – und sei es nur für ein paar Stunden? Und hier verhielt es sich genauso. Man mußte sich der Sache in ihren eigenen Kategorien nähern, nicht in einem voyeurhaften oder selbst in einem wissenschaftlichen Licht. Anfangs war es vermutlich unmöglich, sie anders zu sehen, wenn man sie, wie wir es taten, bruchstückhaft und durch die Jahrhunderte
betrachtete. Die Vitalität des Aktes war gänzlich verhüllt, seine Schönheit, das Grauen, das Opfer.« Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückte sie aus. »Um es ganz einfach zu sagen«,
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