Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
an.
»Was habt ihr genau getan?« fragte ich.
»Also wirklich, ich glaube, darauf brauchen wir jetzt nicht einzugehen«, erwiderte er geschmeidig. »Die Vorgänge hatten ein bestimmtes fleischliches Element in sich, aber das Phänomen war seiner Natur nach im Grunde spirituell.«
»Ihr habt Dionysos gesehen, nehme ich an?«
Das hatte ich nicht ernst gemeint, und überrascht sah ich, daß er so beiläufig nickte, als hätte ich ihn gefragt, ob er seine Hausaufgaben gemacht habe.
»Ihr habt ihn körperlich gesehen? Mit Ziegenfell? Thyrsos?«
»Woher weißt du, was Dionysos ist?« fragte Henry etwas schärfer. »Was glaubst du, was wir gesehen haben? Einen Cartoon? Eine Zeichnung von einer Vase?«
»Ich kann bloß nicht fassen, daß du mir erzählen willst, ihr habt tatsächlich ...«
»Was wäre, wenn du noch nie das Meer gesehen hättest? Was wäre, wenn das einzige, was du je gesehen hättest, ein Kinderbild wäre – in blauen Buntstiftfarben, muntere Wellen? Würdest du das wirkliche Meer kennen, wenn du nur dieses Bild gesehen hättest? Du weißt nicht, wie Dionysos aussieht. Wir reden hier von Gott. Gott ist eine ernste Sache.« Er lehnte sich zurück und musterte mich. »Du brauchst dich nicht auf mein Wort zu verlassen, weißt du«, sagte er. »Wir waren zu viert. Charles hatte eine blutige Bißspur am Arm und wußte nicht, woher er sie hatte, aber ein menschlicher Biß war es nicht, es war zu groß. Und seltsame Stichwunden - nicht wie von Zähnen. Camilla sagte, eine Zeitlang habe sie geglaubt, sie sei ein Reh; und auch das war merkwürdig, denn wir anderen erinnerten uns, daß wir ein Reh durch den Wald gejagt hatten, meilenweit, wie es schien. Und tatsächlich waren es auch Meilen gewesen. Das weiß ich sicher. Anscheinend sind wir gerannt und gerannt und gerannt, denn als wir zu uns kamen, hatten wir keine Ahnung, wo wir waren. Später stellten wir fest, daß wir mindestens vier Stacheldrahtzäune überwunden hatten, obwohl ich nicht weiß, wie. Und wir waren weit weg von Francis’ Haus, sieben oder acht Meilen weit draußen auf dem Land. Und jetzt komme ich zu dem eher unglückseligen Teil meiner Geschichte.
Ich habe nur ganz unbestimmte Erinnerungen daran. Ich hörte
etwas – oder jemanden – hinter mir, und ich fuhr herum und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Ich schlug mit der Faust nach dem, was da war – ein großes, undeutliches, gelbes Ding –, schlug mit der Linken, die nicht meine gute Hand ist. Ich fühlte einen schrecklichen Schmerz in den Knöcheln, und dann, beinahe im selben Augenblick, traf mich ein solcher Schlag, daß es mir den Atem nahm. Es war dunkel, mußt du bedenken; ich konnte kaum etwas sehen. Ich schlug noch einmal zu, mit der Rechten diesmal, so kräftig ich konnte, und ich legte mein ganzes Gewicht hinein, und diesmal hörte ich einen lauten Knacks und einen Schrei.
Wir sind uns nicht allzusehr im klaren darüber, was nachher passierte. Camilla war ein gutes Stück vor mir, aber Charles und Francis waren mir ziemlich dicht auf den Fersen und hatten mich bald eingeholt. Ich habe die deutliche Erinnerung daran, daß ich auf den Beinen war und die beiden durch das Gestrüpp brechen sehe – Gott, ich sehe sie jetzt noch vor mir. Das Haar war verklebt von Laub und Schlamm, und ihre Kleider waren in Fetzen. Dann blieben sie stehen, keuchend, mit glasigen Augen, feindselig – und ich erkannte sie beide nicht, und ich glaube, wir hätten wohl angefangen, miteinander zu kämpfen, wenn nicht der Mond hinter einer Wolke hervorgekommen wäre. Wir starrten einander an, und allmählich kam alles zurück. Ich schaute auf meine Hand und sah, daß sie mit Blut und mit Schlimmerem besudelt war. Charles trat einen Schritt vor und kniete nieder; da lag etwas zu meinen Füßen, und ich bückte mich ebenfalls und sah, daß es ein Mann war. Er war tot. Er war ungefähr vierzig Jahre alt und hatte ein gelbkariertes Hemd an – du weißt schon, die wollenen Hemden, die sie hier oben tragen –, und er hatte den Hals gebrochen, und – es ist unangenehm, das zu sagen – sein Gehirn war übers ganze Gesicht verschmiert. Wirklich, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es war eine schreckliche Sauerei. Ich war blutgetränkt, ich hatte sogar Blut an der Brille.
Charles erzählt die Geschichte anders. Er erinnert sich daran, daß er mich bei der Leiche sah. Aber er sagt, er hat auch die Erinnerung daran, daß er mit etwas gekämpft, daß er so heftig daran gezerrt
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