Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
habe, wie er nur konnte, und daß ihm plötzlich bewußt geworden sei, daß es der Arm eines Mannes war, woran er da zerrte, und er habe sogar den Fuß in die Achselhöhle gestemmt. Und Francis –, nun, das kann ich nicht sagen; jedesmal, wenn man mit ihm spricht, erinnert er sich an etwas anderes.«
»Und Camilla?«
Henry seufzte. »Vermutlich werden wir nie wissen, was wirklich passiert ist«, sagte er. »Wir haben sie erst geraume Zeit später gefunden. Sie saß still am Ufer eines Baches und hielt die Füße ins Wasser. Ihr Gewand war makellos weiß. Nirgends war Blut, außer in ihren Haaren. Die waren dunkel und verklebt, ganz naß. Als hätte sie versucht, sich die Haare rot zu färben.«
»Wie konnte das passieren?«
»Das wissen wir nicht.« Er zündete sich eine neue Zigarette an. »Jedenfalls war der Mann tot. Und wir standen mitten im Wald, halb nackt und schlammbedeckt, und vor uns lag diese Leiche auf dem Boden. Wir waren alle ganz benommen. Mir war abwechselnd klar und verschwommen im Kopf, und ich wäre fast eingeschlafen, aber dann kam Francis, um sich das Ganze näher anzuschauen, und dann bekam ich einen ziemlich heftigen Schluchzkrampf. Und irgendwie brachte mich das zu Bewußtsein. Ich sagte Charles, er solle Camilla suchen gehen, und dann kniete ich mich hin und durchsuchte die Taschen des Mannes. Viel war nicht da – ich fand irgendwas mit seinem Namen drauf, aber das half uns natürlich nichts.
Ich hatte keine Ahnung, was zu tun war. Du darfst nicht vergessen, es wurde kalt, und ich hatte lange nicht geschlafen und nichts gegessen, und so war mein Kopf nicht besonders klar. Eine Zeitlang - meine Güte, wie verwirrend das alles war – erwog ich, ein Grab auszuheben, aber dann erkannte ich, daß das Wahnsinn wäre. Wir konnten ja nicht die ganze Nacht hier herumlungern. Wir wußten nicht, wo wir waren oder wer womöglich vorbeikommen würde oder wenigstens, wie spät es war. Außerdem hatten wir auch nichts zum Graben. Einen Moment lang wäre ich fast in Panik geraten – wir konnten die Leiche doch nicht im Freien liegen lassen, oder? Und dann begriff ich, daß es die einzige Möglichkeit war. Mein Gott, wir wußten nicht mal, wo das Auto stand. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir den Toten, Gott weiß, wie lange, über Berg und Tal schleifen sollten; und selbst wenn wir ihn bis zum Auto bekommen hätten: Wo hätten wir ihn hinbringen sollen?
Als Charles mit Camilla zurückkam, gingen wir deshalb einfach weg. Rückblickend betrachtet war es das Klügste, was wir tun konnten. Es ist ja nicht so, als ob überall in Vermont ganze Teams von erfahrenen Leichenbeschauern den Wald durchkämmen. Die Gegend ist ziemlich unberührt. Andauernd stirbt jemand auf ganz natürliche Weise eines gewaltsamen Todes. Wir wußten nicht mal,
wer der Mann war; es gab nichts, was ihn mit uns verbunden hätte. Wir mußten uns lediglich darum kümmern, daß wir den Wagen fanden und nach Hause kamen, ohne daß uns jemand sah.« Er beugte sich vor und schenkte sich Scotch nach. »Und genau das taten wir.«
Ich goß mir auch noch ein Glas ein, und dann saßen wir mehr als eine Minute lang schweigend da.
»Henry«, sagte ich schließlich. »Guter Gott.«
Er zog eine Braue hoch. »Wirklich, es war aufregender, als du dir vorstellen kannst«, sagte er. »Ich habe mit dem Auto einmal ein Reh angefahren. Es war ein wunderschönes Tier, und zu sehen, wie es zappelte, die Beine gebrochen, Blut überall ... Und das hier war noch bestürzender, aber zumindest glaubte ich, es wäre vorbei. Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß wir noch einmal davon hören würden.« Er nahm einen Schluck Scotch. »Leider ist es anders gekommen«, sagte er. »Dafür hat Bunny gesorgt.«
»Wie meinst du das?«
»Du hast ihn heute morgen gesehen. Er hat uns halb wahnsinnig gemacht mit dieser Sache. Ich bin bald am Ende meiner Kräfte.«
Ich hörte, wie ein Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. Henry hob sein Glas und leerte es mit einem großen Schluck. »Das wird Francis sein«, sagte er und schaltete die Deckenlampe ein.
FÜNFTES KAPITEL
Als das Licht anging und der Kreis der Finsternis zurückwich und die profane und vertraute Umgrenzung eines Wohnzimmers sichtbar werden ließ – ein unordentlicher Schreibtisch, ein niedriges, wulstiges Sofa, die staubigen, modisch geschnittenen Vorhänge, die Francis von seiner Mutter bekommen hatte –, da war es, als hätte ich nach einem langen Alptraum Licht gemacht. Blinzelnd
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