Die geheime Reise der Mariposa
Schiffen herumspukten. Es konnte sie nicht geben … Oder doch? »Unser Ziel ist die Isla Maldita. Und dabei bleibt es.«
Der Alte ließ die Zigarette fallen, griff über den Tisch und packte José am Kragen. Etwas sehr Kaltes drückte sich gegen seine Schläfe: die Mündung einer Waffe. Der kleinen schwarzen Pistole. Casafloras Zigarette glühte auf dem Tisch weiter vor sich hin.
»Schade«, flüsterte er. »Schade, dass du dein Gewehr nicht finden kannst, nicht wahr, mein Junge?«
Das Gewehr. Die Pistole. Jonathan hatte sie nicht. Der Griff an Josés Kragen schnürte ihm die Luft ab. »Sie … Sie sind gar nicht tot«, keuchte er.
»Vielleicht nicht«, zischte Casaflora. »Ansichtssache. Die Holländer, die das Schiff fanden, habe ich mit diesem kleinen Ding überzeugt, anderer Ansicht zu sein.« Und er drückte den Lauf der Pistole etwas fester in Josés Haut.
»Weshalb?«, fragte José. Die Frage kam als heiseres, gequetschtes Flüstern aus seiner Kehle.
»Es musste sein. Ich musste sterben. Sie waren hinter mir her. Wegen der Karte.«
»Aber ich hatte die Karte«, flüsterte José, vollkommen verwirrt.
»Ja. Du bekommst sie wieder, sobald ich begreife, was darauf ist. Im Übrigen lag ich wirklich eine Zeit lang krank hier herum. Irgendein seltsames Fieber.«
Casaflora wies mit dem Daumen hinter sich und endlich begriff José. Auf der Seite, auf der es keine Klappe in der Innenverkleidung der Kajüte gab, gab es doch eine Klappe. Sie passte sich perfekt ins Muster des Holzes ein. Hinter der sichtbaren Klappe lagerten Nahrungsmittel. Hinter der verborgenen, die jetzt offen stand, gab es eine verborgene Koje. »Konnte mich gerade so an Deck schleppen, um zu pissen, wenn ihr es nicht gemerkt habt. Eine Weile dachte ich, ich verrecke da hinter meiner falschen Wand. Aber nein, noch bin ich da. Und solange ich nicht verreckt bin, bin ich es, der auf diesem Schiff bestimmt. Wir fahren nach Isabela. Das wäre nicht die erste Kugel, die ich auf dieser Reise verschwende. Ich kann die Mariposa auch allein segeln. Es wäre mir allerdings lieber, du tätest es und ich könnte hier unten bleiben, unsichtbar.«
»In Ordnung«, flüsterte José. »Wir fahren nach Isabela.«
Juan Casaflora war nicht tot, dachte er. Aber er war vielleicht verrückt.
»Dein Freund da draußen braucht nichts von alldem zu wissen«, sagte Casaflora. »Je weniger Leute wissen, dass ich lebe, desto besser. Ich bekomme so ziemlich alles mit, was an Deck passiert, denk daran. Es ist bald Zeit, deinen Freund abzulösen. Und dann änderst du den Kurs, verstanden?«
José nickte gequält. Casaflora nahm die Pistole herunter, aber es war, als würde die Stelle noch immer brennen.
»Bist ein guter Junge«, sagte der Alte und kletterte zurück in die Koje hinter der Wand. Sie schloss sich mit einem kaum hörbaren Klicken.
José saß einen Augenblick lang da und starrte ins Nichts. Dann bemerkte er, dass es im Nichts einen schwach glühenden Punkt gab. Die Zigarette. Sie hatte ein kleines Loch in die Beschichtung des Tisches geschmolzen. José hob sie auf, betrachtete sie kurz – und rauchte sie zu Ende. Ein guter Junge? Er war kein Junge. Er war ein Mann.
Und er würde es ihnen beweisen, irgendwie. Er würde den Kurs ändern, so wie Casaflora es wollte. Aber nicht für immer. Zuerst musste er herausfinden, warum Casaflora es für nötig gehalten hatte zu sterben, um zu überleben.
Jonathan träumte wieder von Hamburg. Der Flieder blühte, weiß und violett, und die Luft war schwer vom Duft. In der Küche lag auf dem Tisch ein Brief, und in diesem Brief stand, dass sein Vater nicht aus Frankreich zurückkommen würde. Der Briefumschlag war ein Sarg aus Papier. Er lag schon seit mehreren Wochen auf dem Küchentisch. Weder Julia noch er wagten, ihn von dort wegzunehmen. Sie stellten die Teller drum herum, als bemerkten sie ihn nicht. Mama musste den Brief wegnehmen.
Im Traum lief Jonathan die Treppe hinauf, er kam von der Schule. Er wusste, er würde in eine stille Wohnung kommen, still und schwarz … Aber als er die Tür öffnete, hörte er Mama singen. Sie sang beim Kochen. Julia stand auf einem Stuhl neben ihr und half ihr. Kochen. Und singen. Der Brief lag nicht mehr auf dem Küchentisch.
»Ist etwas … passiert?«, erkundigte sich Jonathan vorsichtig und stellte seine Schultasche ab.
»Ja«, antwortete Mama, drehte sich um und lächelte ihn an. »Wir leben weiter.«
Sie trug Papas alte karierte Schiebermütze, obwohl es doch drinnen
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