Die geheime Reise der Mariposa
finden wir heraus, wenn wir da sind.«
José übergab ihm das Steuer und stand auf. »Sieh du dir die Karte mal an«, sagte er. »Vielleicht siehst du mehr darauf als ein Kinderspiel.«
Er ging in die Kajüte hinunter und griff in seinen Rucksack. Die Karte lag ganz unten, säuberlich gefaltet. Er hatte sie lange nicht mehr angefasst. Jetzt tastete er, fühlte den rauen Stoff des Rucksacks, aber keine Karte. Er holte seine Kleider aus dem Rucksack und drehte ihn um. Nichts. Hatte er sich geirrt? Hatte er die Karte in die kleine Seitentasche gesteckt, in der er auch die Pistole verwahrte? Nein. Die Seitentasche war leer. Es war keine Karte darin. Auch keine Pistole.
José schluckte. Er griff unter den Tisch, wo er sein Gewehr abgelegt hatte. Er war nicht wirklich erstaunt, den Platz dort leer vorzufinden.
Was habe ich dir gesagt?, wisperte die Abuelita. Du hättest ihn nicht an Bord nehmen sollen. Er erzählt Lügengeschichten. Die Geschichte von dem Toten in der Nacht – hast du die geglaubt?
Du bist es doch, die an Geschichten von Toten glaubt, entgegnete José stumm.
Das ist etwas anderes, sagte die Abuelita. Der da an Bord, der gerade am Steuer sitzt … der tut, als wäre er schwach und unschuldig, erzählt rührende Sachen über seine tote Familie …
José ging zurück an Deck, setzte sich auf die Bank Jonathan gegenüber und musterte ihn eine Weile schweigend. Ein hübscher Kerl, hatte die Abuelita gesagt. Es war wahr. Sein Gesicht war zerkratzt und zerschunden, doch es wirkte noch immer zerbrechlich, ebenmäßig, fein, wie aus Porzellan. Der Wind zerzauste sein helles Haar, und seine blauen Augen waren konzentriert auf den Kompass gerichtet. Schöne Menschen sind gefährlich, dachte José. Sie haben es leicht, einen für sich einzunehmen. Jeder denkt, schöne Menschen wären gute Menschen.
Die Narbe an Jonathans Stirn machte ihn nur noch sympathischer. Vielleicht war diese Narbe nicht einmal echt. José streckte die Hand danach aus und berührte sie.
Jonathan zuckte zurück. »Was soll das? Was ist mit der Karte? Wolltest du sie nicht holen?«
»Du weißt genau, dass ich sie nicht holen kann«, erwiderte José. »Weil sie nicht mehr in meinem Rucksack ist.«
Blitzschnell legte er einen Arm um Jonathans Hals und nahm ihn in den Schwitzkasten.
»Was … ?«, keuchte Jonathan.
»Hast du gedacht, ich merke es nicht?«, fragte José. »Es war alles gelogen, von vorn bis hinten. Du bist nicht schnell genug. Irgendwo in deiner Tasche ist die Pistole, nicht wahr? Aber du bist nicht schnell genug.«
Jonathan wand sich, doch José wusste, dass er stärker war. Er fuhr mit der freien Hand über die Narbe und Jonathan zuckte wieder zusammen. Womöglich war sie doch echt. Aber das hieß nichts. »Wo hast du sie?«, fragte José kalt. »Die Karte? Und wo hast du mein Gewehr versteckt? Oder hast du es über Bord geworfen? Wer bist du? Wieso bist du hier? «
»Das … das habe ich dir alles schon erzählt!«, keuchte Jonathan. »Bist du völlig übergeschnappt?«
»Nein«, knurrte José. »Ich bin zur Vernunft gekommen.« Er ließ Jonathan los, stieß ihn auf den Boden und hielt ihn dort fest. »Jetzt erzähl mir die wahre Geschichte. Nichts von toten Müttern und kleinen Schwestern und Pistolen, die du zufällig unter Deck findest.«
Er sah, dass in Jonathans blauen Augen Tränen standen. »Heul ruhig«, sagte er.
»Ich … heul nicht«, sagte Jonathan und schluckte. »Ich habe seit Jahren nicht geheult. Nicht einmal … damals. Ich weiß nicht, wo dein Gewehr ist. Ich weiß auch nicht, wo die Pistole ist. Und ich habe sie unter Deck gef… Vorsicht!«, schrie er.
José duckte sich instinktiv und der Großbaum fegte über ihn hinweg. Die Segel schlugen knatternd hin und her. Niemand hielt das Steuer fest. Die Mariposa stand einmal mehr im Wind.
José schluckte. Der Baum hätte ihn bewusstlos geschlagen, genau wie jemand es auf Santiago getan hatte.
»Danke«, murmelte er und ließ Jonathan los.
Er sah die Abdrücke seiner Finger dort, wo er Jonathans bloße Unterarme festgehalten hatte.
Jonathan rappelte sich auf und José brachte das Schiff schweigend wieder auf den richtigen Kurs.
»Was … was soll jetzt werden?«, fragte Jonathan schließlich leise.
»Ich weiß nicht«, sagte José. »Ich weiß gar nichts mehr. Ich weiß nur, dass ich dir nicht glaube. Aber ich werde zur Isla Maldita fahren, mit oder ohne Karte, und ich werde herausfinden, was dort vor sich geht. Und wenn ich eines Tages mit
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