Die geheime Reise
ihrem Mund.
»Das Kribbeln wird stärker«, entgegnete die alte Frau leise. »Und gleichzeitig wird der Reisekörper immer schwächer. Er verliert die Orientierung, er weiß nicht mehr, wo er hingehört. Das geschieht sehr plötzlich. Die Auflösung«, die alte Frau entzog Wanja ihre Hand, »kommt danach. Sie dauert länger und geschieht von innen her. Der Reisekörper wird leichter und leichter, als ob man verblasst.«
»Wie lange?« Wanjas Lippen bebten. »Wie lange dauert dieser … dieser Vorgang?«
»In unserer Zeit drei, vielleicht vier Tage. Im Bild wenige Stunden.«
Wanja zuckte zusammen. Die unterschiedlichen Zeiten, hier waren sie wieder. Auch diese Frage war mit dem Tod von Schröder und all den Dingen, die danach geschehen waren, in den Hintergrund getreten.
»Warum ist das so?«, wisperte sie. »Warum warten wir Wochen auf unseren nächsten Besuchstag, während im Bild nicht mal ein Tag dazwischen liegt? Und warum verbringen wir Stunden im Bild, während außerhalb nur Minuten verstreichen? Das widerspricht sich doch!«
Der Anflug eines Lächelns erschien auf dem Gesicht der alten Frau. »Das hat mit dem Reisekörper zu tun. Wo er sich befindet, dehnt sich die Zeit, weil dieser Körper ein anderes Empfinden hat. Ist euer Reisekörper im Bild, erlebt er das, was hier Minuten sind, dort als Stunden. Kehrt er in sein Zuhause, in den äußeren Körper zurück, verkehrt es sich ins Gegenteil.«
Wanja schloss die Augen. Ihre Gedanken fingen wieder an sich zu drehen. Gleich darauf stoppten sie. Abrupt. Bei Mischa. Bei seinem Körper, der jetzt draußen war. Außerhalb des Bildes. Außerhalb … von zu Hause. »Wenn sich der Reisekörper auflöst«, fragte sie, »was … was geschieht dann mit dem Körper, der draußen bleibt?«
Die alte Frau rang nach Luft. »Der Körper, der draußen bleibt, hat alles, was er zum Leben braucht. Aber das Wesentliche fehlt.«
Vor dem roten Tisch ging eine der Kerzen aus. Wanja stöhnte. Doch plötzlich fielen ihr Amon ein, Perun und all die Artisten aus dem Bild, die mit Taro die Manege verlassen hatten. Sie fasste die alte Frau an den Schultern. »Können die anderen ihm nicht helfen? Sie können ihn, ich meine … seinen Reisekörper doch zurück zum Rahmen tragen.«
Die alte Frau lächelte Wanja traurig an. »Nein, das können sie nicht. Er muss es aus sich selbst heraus tun. Aber dazu muss er sich zuerst erinnern, wo er hingehört. Und dabei kann ihm nur ein Mensch aus seiner eigenen Welt helfen. Jemand, der ihn lieb hat.«
Wanja wankte. Sie drehte sich um, wollte von der Bühne herunterspringen. Wollte zu ihrer Arkade laufen, wollte in ihr Bild hineinspringen. Wollte –
»Es hat keinen Sinn.« Die alte Frau hielt Wanja zart am Arm. »In diesem Zustand kannst du nichts für deinen Freund tun. Dein Reisekörper ist noch viel zu schwach.«
Wanja grub ihre Finger in ihr Gesicht, so tief, dass es wehtat.
»Komm.« Die kleinen, rauen Finger schlossen sich um Wanjas Handgelenk. »Komm mit mir. Es gibt einen Weg. Aber er liegt nicht in meiner Hand.«
Wanja ließ sich von der Frau mitziehen.
Ins Hintere der Bühne.
Zu der schmalen Seitentür.
Und in die dahinter liegende Dunkelheit.
Der Raum hinter der weißen Tür war kreisrund. Er kam Wanja vor wie das Innere eines fensterlosen Turmes. An der Wand gegenüber hing ein dunkler Vorhang, rechts und links daneben zündete die alte Frau zwei weiße Kerzen an. Sie steckten in silbernen Haltern und die kleinen goldgelben Flammen reckten sich züngelnd der dunklen Decke entgegen. Außer den Kerzen und dem Vorhang war der Raum völlig leer. Der Vorhang schimmerte jetzt, als hätte jemand Sternenstaub auf den schweren dunkelblauen Samtstoff gestäubt, und für einen Moment war es Wanja, als bäume sich der Vorhang auf, ganz leicht wie durch einen dahinter wehenden Wind. Ein geöffnetes Fenster?
Doch als die Frau den Vorhang zur Seite schob, lag dahinter ein feiner silberner Rahmen. In seinem Inneren war nachtschwarze Leere.
Die alte Frau winkte Wanja zu sich heran. »Du wirst jetzt mit Oshalá sprechen.«
Wanja schluckte. »Ist er … der Hüter der Bilder?«
Die alte Frau nickte. Dann berührte sie das Innere des Rahmens.
Wanja trat näher. Für einen Moment vergaß sie all das Schreckliche. Etwas geschah. So, wie sich ein Polaroid entwickelt, wenn man es ins Licht hält, traten Farben und Formen in dem silbernen Rahmen an die Oberfläche und nahmen langsam, ganz langsam Gestalt an.
Ein weißer Turm, schlank und hoch. Über ihm Himmel.
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