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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Schaukel – und sprang ab.
Sekunden später stand sie wieder auf ihrem Trittbrett. Der erste Sprung war geglückt und plötzlich war alle Angst verflogen. Sie strahlte. Jetzt kam das Vogelnest. Taro schwang an seiner Schaukel und lachte sie an. Dann klatschte er in die Hände. Die Trommeln wurden lauter. Takka-ta-tamm, takka-ta-tamm. Als Noaehs Stimme einsetzte, griff Wanja nach der Stange und stieß sich ab. Sie schwang vor und zurück, dann hob sie die Beine. Taros Stimme klang in ihr und Wanja kniff die Augen zu, um die Stimme besser wahrzunehmen. Die Hüften durchdrücken. Den Kopf ins Genick legen. Wenn die Schaukel ganz vorne ist, Taro anschauen. Wanja drückte die Hüften durch. Sie legte den Kopf ins Genick.
Und dann schrie jemand.
Wanja riss die Augen auf. Die Schaukel war jetzt ganz vorne, ein, vielleicht zwei Meter über dem zweiten Trapez. Es war der Moment des Absprungs.
Aber an der Stange hing nicht Taro.
An der Stange hing der schwarze Vogel.
Mit dem Kopf nach unten und groß wie ein Mann.
Seine Krallen hatten sich um die Stange geklammert, knorrig, hart und Grauen erregend scharf. Die gigantischen Flügel waren weit ausgebreitet. Wie schwarze Todesschwingen schwangen sie auf Wanja zu. Alles um sie her war in ihrem Schatten gefangen. Starr vor Entsetzen, hing Wanja an ihrer Stange. Nichts rührte sich. Alles war totenstill.
Lautlos schwang der Vogel ihr entgegen.
Vor und zurück.
Vor und zurück.
Wanjas Beine fingen so stark zu zittern an, dass ihre Füße abrutschten. Nur mit ihren Händen hing sie jetzt noch an der Stange. Was sollte sie tun? Was um Himmels willen sollte sie tun? Ihre Kräfte ließen nach, sie wollte sich fallen lassen, aber sie hatte Todesangst, dass der Vogel sie in der Luft ergreifen würde, wenn sie losließ. Alles in ihr schrie Taros Namen, aber sie brachte keinen Laut hervor. Vor und zurück, vor und zurück schwangen sie und die Bestie in der Luft aufeinander zu, jede Bewegung war grausam verlangsamt, als wolle die Zeit jeden Bruchteil des Schreckens qualvoll in die Länge dehnen.
Dann, endlich, ertönte Taros Stimme. »Wanja! Lass dich nicht fallen! Halt aus!«
Die Stimme war unter ihr und Wanja hielt sich mit letzter Kraft an der Stange fest. Unendlich erschienen ihr die Augenblicke, bis sie fühlte, wie ihre Schaukel nach hinten gezogen wurde. Zwei Arme umfassten sie. Taros Arme. Die Stange mit dem Haken, mit der er ihr Trapez zu sich gezogen hatte, fiel in die Tiefe und landete polternd auf dem Boden.
»Klettere nach unten, Wanja, schnell!«
»Und du?« Wanja krallte sich an Taro fest. Sein Herzschlag hämmerte ihr entgegen. »Was ist mit dir?«
Taro stieß Wanja von sich weg. In seinem Gesicht stand der blanke Hass, seine Augen glühten, seine Nasenflügel bebten. »Die Bestie hat mich nach unten gestoßen. Wie aus dem Nichts ist sie gekommen. Es reicht! Wenn der Vogel etwas von mir will, dann soll er es haben. Geh nach unten, Wanja. Sofort!«
Und Wanja tat, was Taro befahl.
Auf dem Boden der Manege standen die anderen Artisten. Sie rührten sich nicht, als wären sie in ihrer Bewegung festgefroren.
Hinten auf der Zuschauertribüne hatte Amon sich von seinem Platz erhoben. Gestützt auf seinen knorrigen Stock stand er da. Klein sah er aus. Klein, gebeugt und ur-uralt.
Über ihnen am Trapez hing noch immer der Vogel, drohend und unbeweglich wie eine Statue. Es stank, nach widerlichem, kaltem Schweiß, und Wanja merkte, dass es ihre eigene Angst war. Taro hatte die Stange des anderen Trapezes ergriffen und stieß sich ab.
»Taro!« Perun trat vor und schrie nach oben. »Verflucht noch mal, was hast du vor? Bist du wahnsinnig?«
Taro antwortete nicht. Er holte Schwung mit den Beinen, immer mehr und mehr und plötzlich wusste Wanja, was er plante. Er wollte dem Vogel an die Flügel springen. Durch die Kraft des Schwunges würden sie nach unten brechen. Aber als Taros Körper durch die Luft wirbelte, lösten sich die Krallen des Vogels von der Stange. Der Vogel ließ sich nach unten fallen. Er drehte sich in der Luft und Wanja fiel mit Entsetzen die Schönheit der Bewegung auf. Taros Hände waren vorgeschossen, aber sein Gegner war längst unter ihm. Im letzten Augenblick bekam Taros eine Hand die Stange zu fassen. Zappelnd wie eine Marionette hing er am Trapez, während der Vogel sein Opfer umkreiste.
Tut doch was, schrie es in Wanja, tut doch jemand endlich etwas.
Aber niemand tat etwas.
Alle standen wie im Bann einer unsichtbaren Kraft, die Gesichter nach oben gewandt, wo

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