Die geheime Reise
ihrem Kopf fing es endlich an, zu klacken. Natürlich! Wenn ein Bild lebendig sein konnte, dann konnte es sich auch verändern, das war ihr vor lauter Aufregung überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Und wenn Taro nicht hier war, hieß es natürlich nicht, dass er nicht da war.
Sie stieß Mischa in die Seite »Du bist gar nicht so blöd, wie du aussiehst.«
Mischa grinste und Wanja grinste erleichtert zurück. »Wow, du kannst ja sogar lachen.«
In der Manege roch es nach Sägespänen und erst jetzt fiel Wanja auf, dass während der ganzen Vorstellung keine Tiere da gewesen waren, bis auf die Schlange, die das Mädchen mit den sonderbaren Augen beim Schlussapplaus in der Manege um den Hals getragen hatte.
Wanja hasste eingesperrte Tiere und sie hasste es, wenn Menschen Tiere zu Dingen zwangen, die nicht ihrer Natur entsprachen. Und dass ein Zirkus auch ohne Dreirad fahrende Bären oder Männchen machende Löwen phantastisch auskam, hatte ihr die letzte Vorstellung auf das Schönste bewiesen.
Hinter dem Vorhang der Manege krachte es und Wanja fuhr zurück, als gleich darauf eine tiefe Stimme losdonnerte. »HERGOTT NOCH MAL, DU IDIOTISCHER TROTTEL, KANNSTE NICH MAL EIN PAAR LÄCHERLICHE STANGEN RICHTIG HALTEN?!«
Wanja griff nach Mischas Arm, doch als sich der Vorhang öffnete, musste sie grinsen. Thyra, die Riesin, stand in der Tür, während ihr Zwillingsbruder Thrym auf dem Boden kniete und mit hochrotem Kopf den Stapel Eisenstangen wieder aufsammelte, der ihm offensichtlich zu Boden gefallen war. Beide trugen schwarz-weiß gestreifte Ringel-T-Shirts, kurze schwarze Radlerhosen und rote Ballettschuhe.
Wanja lief auf Thrym zu, um ihm zu helfen, was sich jedoch als unmöglich herausstellte. Nicht einmal anheben konnte Wanja die letzte Stange, die jetzt noch auf dem Boden lag, und fassungslos starrte sie Thrym an. »Die kannst du alle tragen?!«
»KANN ER EBEN NICHT«, wetterte Thyra. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihren Zwillingsbruder an, als wäre er ein lahmender Esel, für den sie gerade ihr letztes Geld ausgegeben hatte. Doch als sie die beiden Besucher wahrnahm, wischte ein breites Lächeln ihre düstere Miene weg.
»ABER HALLO!« Selbst jetzt klang ihre Stimme noch wie eine Trompete. »NU SEH ICH ERST, DASS IHR ES SEID! TARO HAT EUCH SCHON VERMISST. ER SITZT IN DER CAFETERIA UND FREUT SICH LÖCHER IN DEN BAUCH, WENN ER EUCH SIEHT.«
Thrym, der inzwischen alle Stangen auf den Armen balancierte, schenkte den beiden ein schüchternes Lächeln, doch da lief Wanja schon aus der Manege hinaus, zur Cafeteria, einem großen dunkelbraunen Holzwohnwagen, auf dem in blau-gelben Buchstaben »Zirkus Anima« geschrieben stand.
Die schmale Holztreppe kam gerade der Mann mit den wilden Haaren und dem tätowierten Arm herunter.
»Unseren Herrn des Feuers« hatte der kleine Zirkusdirektor ihn genannt und Wanja musste grinsen, weil ihr auch Thryras Bemerkung »Streichholzfresser« wieder in den Kopf schoss. Perun, ja, das war sein richtiger Name gewesen. Über seinem nackten Oberkörper trug er heute eine Küchenschürze und in der Hand hielt er ein riesiges Glas.
Vor der Cafeteria an einem der Tische saß Taro, und als er Wanja und Mischa bemerkte, fing sein Gesicht an zu strahlen.
»Ihr werdet schon sehnsüchtig erwartet«, sagte jetzt auch Perun. Er stellte das Glas vor Taro ab und wandte sich den beiden zu. »Es gibt frische Mangomilch, mögt ihr auch welche?«
»Gern«, sagte Wanja. Zwei Gefühle stritten plötzlich in ihr. Starke Schüchternheit mit dem Wunsch, dem Akrobaten um den Hals zu fallen. Sie setzte sich neben ihn; Mischa, der die Frage nach der Mangomilch mit einem Kopfschütteln beantwortet hatte, nahm auf dem Stuhl gegenüber Platz.
Der Mann verschwand wieder in der Cafeteria und Taro schob sein Glas zu Wanja. »Nimm schon mal meins. Mangomilch ist Peruns Spezialität, so eine findest du sonst nirgends auf der Welt.«
Es gibt so einiges hier, was ich sonst nirgends auf der Welt finde, dachte Wanja, als sie das Glas an den Mund setzte und dabei merkte, wie sich in ihr wieder dieses tiefe Gefühl von Zuhause ausbreitete. Jo brachte manchmal Mangos vom Markt mit, aber ihr Geschmack waren kein Vergleich zu dem intensiven dieses ockerfarbenen Getränkes, das ihr jetzt angenehm kühl die Kehle herunterlief.
Draußen schien die Sonne, es roch nach Süden und es war so warm, dass Mischa sich bereits die Jacke ausgezogen hatte und Wanja die Ärmel ihres Sweatshirts
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