Die geheime Reise
von seinem Platz. »Sie ist in meinem Wohnwagen, und wenn Wanja einverstanden ist, zeige ich sie dir gern. Ich will nur vorher kurz bei Sandesh vorbei.«
»Sandesh?« An diesen Namen konnte sich Wanja nicht erinnern. »Wer ist das denn?«
Taro winkte den beiden ihm zu folgen. Er führte sie an der Zirkuscafeteria vorbei, hinter der eine riesige Weide lag. Darauf, weit hinten, am unsichtbaren Abgrund, stand eine kleine Holzhütte.
Taro nahm die Pfeife, die er um den Hals trug, in den Mund und pfiff. Ein leiser, hoher Ton. Eine Weile standen sie schweigend da, dann tauchte hinter der Hütte der Kopf eines Pferdes auf. In langsamen, tänzelnden Schritten kam es auf sie zu. Weiß war es, mit großen schwarzen Flecken auf dem glänzenden Fell.
Ein Appaluzerpferd, schoss es Wanja durch den Kopf. In Tinas Zimmer hatte ein Poster gehangen und Tina hatte Wanja von der seltenen Rasse vorgeschwärmt. Weiß der Himmel, warum ich diesen Namen behalten habe, dachte Wanja, denn zugehört hatte sie Tina damals nur mit halbem Ohr. Tinas Posterpferde hatten Wanja nicht die Spur interessiert, aber dieses Pferd war lebendig und wunderschön. Es stand jetzt dicht vor ihnen, seine großen dunklen Augen ruhten auf Taro, der langsam seine Hand hob. Das Tier neigte seinen Kopf, als wollte es ihn in Taros Hand hineinschmiegen, und in Wanjas Händen fing es an zu zucken.
»Darf ich ihn auch mal streicheln?«
»Das musst du mich nicht fragen«, erwiderte Taro. »Aber ich glaube nicht, das Sandesh etwas dagegen hat.«
Vorsichtig streckte Wanja ihre Hand aus und berührte Sandeshs Nüstern. Sie fühlten sich an, als wären sie aus Samt und Sandeshs Atem strich über ihre Finger wie ein warmer Wind.
Plötzlich durchfuhr Wanja ein leichtes Stechen, »Macht Sandesh eigentlich auch mit in eurer Zirkusvorstellung?«
Taro schüttelte schmunzelnd den Kopf, als schien ihm allein der Gedanke daran absurd, und Wanja war beruhigt. Sie sah in die dunkel schimmernden Augen des Pferdes, die sanft und wild waren. Auch Mischa trat an den Zaun heran. Zwischen ihnen stand Taro, er sprach zu Sandesh und die Ohren des Pferdes zuckten, als ob es jedes Wort verstünde. Am liebsten hätte sie gefragt, ob sie auf ihm reiten durfte. Aber Mischas Wunsch war ein anderer gewesen.
»Dann lasst uns gehen«, sagte Taro schließlich und legte Sandesh zum Abschied noch einmal die Hand auf die Nüstern.
Rasch schritten sie nun wieder an der Cafeteria vorbei und über den Platz. Er war größer, als Wanja gedacht hatte, und überall gab es freie Flächen, wie geschaffen für das Abstellen der Wohnwagen. Wanja erinnerte sich, wie sie Jo ein paar Mal zum Campen hatte überreden wollen, aber Jo hatte gesagt, auf einen Campingplatz kriegten sie keine zehn Pferde. Dieses Gewimmel von Wagen, dieses Spießertum der Leute dort, das würde sie nicht mal für Geld ertragen. Hier, dachte Wanja, war weder Gewimmel noch Spießertum, aber davon würde sie Jo nichts erzählen, denn Imago gehörte ihr. Ihr und Mischa.
»Wohnt hier Madame Nui?« Wanja zeigte auf den schwarz gestrichenen Holzwohnwagen, an dem sie gerade vorbeikamen. Er lag abseits des Weges und auf die weiß umrahmte Tür war ein silbernes Spinnennetz gemalt. Taro lachte. »Gut geraten.«
»Was macht Madame Nui eigentlich?« Wanja ging jetzt neben Taro, während Mischa ein paar Schritte hinter ihnen war.
Der Weg gabelte sich und Taro schlug die linke Richtung ein. »Madame Nui schneidert unsere Kostüme. Und in der Vorstellung hat sie ihre besondere Nummer. Sie klettert in einem riesigen Spinnennetz herum, du wirst es bestimmt einmal sehen, es ist – hier sind wir schon – wirklich beeindruckend.«
Taro war stehen geblieben. Leuchtend rot hob sich sein Wohnwagen von der Umgebung ab. Die runde Fläche, auf der er stand, ging direkt auf den Abgrund zu. Vorsichtig trat Wanja näher und beugte sich vor. Es war so tief, dass ihr schwindelig wurde. Schnell drehte sie sich wieder um und stieg auf der anderen Seite des Wagens hinter Mischa die kleinen Stufen hoch. Dabei fühlte sie ihr Herz schneller schlagen. Jedes Haus erzählt etwas über den Menschen, der darin wohnt, und plötzlich kam es Wanja vor, als hätte sie Taro eine intime Frage gestellt, auf die sie nun eine Antwort erhalten würde.
Das vielleicht zwölf Quadratmeter große Innere des Wagens war in hellem Holz gehalten und das schnörkellose Bett mit der bunten Decke ganz hinten in der Ecke war außer einem dunklen Holzstuhl das einzige Möbelstück. Neben
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