Die geheime Reise
dem Kopfende stand eine große, halterlose Kerze und auf dem schmalen, Fenstersims lagen Steine; runde, schwere, dunkel schimmernde Steine. Auf dem Boden lag ein gewebter Teppich, dick und rund, mit grünen, blauen und roten Mustern und neben den beiden blauen Sitzkissen waren Taros Instrumente aufgestellt. Das Saxofon. Eine Hand voll kleiner Trommeln, metallene, hölzerne, mit Stoff bezogene. Eine Klangschale, eine Flöte. Und zwei große Trommeln.
Mischa stand schon davor. Er hielt inne, bevor er seine Handfläche auf die rechte Trommel legte. Sie reichte ihm bis zur Hüfte und vom Türrahmen aus beobachtete Wanja, wie Mischa über die weiße Fläche strich, behutsam, fast so wie Wanja vorhin die Nüstern des Pferdes berührt hatte. Taro hatte sich auf eins der Kissen gesetzt und sah zu Mischa hoch.
»Durch sie kannst du sprechen«, sagte er leise.
Mischa nickte. Wanja merkte, dass sie mitnickte und wunderte sich im selben Atemzug, warum sie eigentlich nicht die Spur von Eifersucht fühlte. Sie selbst war so deutlich ausgeschlossen aus dieser Situation, die Mischas und nicht ihr Wunsch gewesen war, aber es machte ihr nichts aus. Im Gegenteil. Sie konnte fühlen, dass diese Zeit mit Taro ihm gehörte. Fühlte Mischa es auch? Sein Gesicht schaute nach unten und mit einem Mal ballten sich seine Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. Taro drehte Wanja den Kopf zu und sah sie mit seinen ruhigen braunen Augen an, bevor er sich wieder Mischa zuwandte und nichts und niemand sonst mehr wahrnahm.
Wanja drehte sich um und verließ den Wohnwagen. Kurz darauf ertönten hinter ihr drei Schläge, laut und hart, als wollten sie etwas vernichten.
Vor der Zirkuscafeteria, die der Mittelpunkt des Platzes war, hatten sich in der Zwischenzeit einige Artisten versammelt. Neben Taros Trapezpartnerin Gata saß Pati Tatü. Auf seinen gelben Blumenkohllocken trug er heute einen turmhohen Hut und lüpfte ihn kichernd, als er Wanjas Blick bemerkte. Am Nebentisch saßen Thrym und Thyra und in ihrer Mitte klemmte, wie eine Maus zwischen Elefanten, Baba. Er strahlte Wanja an.
»Setz dich zu uns«, rief er ihr zu und für einen Moment überlegte Wanja, ob sie seine Einladung annehmen sollte. Aber eigentlich war ihr jetzt nicht nach Gesellschaft.
»Später vielleicht«, entgegnete sie. »Ich will ein bisschen spazieren gehen.«
»Recht so.« Baba nickte Wanja aufmunternd zu. »Fühl dich wie zu Hause hier bei uns im Zirkus Anima und schau dich um, ganz und überall, wie es dir beliebt.«
Wanja schmunzelte über die sonderbare, ein wenig betuliche Art des kleinen Mannes. Überhaupt, dachte sie, als sie den anderen den Rücken zudrehte und nach links auf die anderen Wohnwagen zuging, war es sonderbar schön, wie sie und Mischa hier aufgenommen wurden. Freudig, aber auch selbstverständlich, ohne irgendwelche Erwartungen.
Vor dem hellgrünen Wagen blieb sie stehen. Auch auf seine Tür war etwas gemalt. Eine kleine Trommel, um die sich eine Schlange ringelte. Wohnte hier Sulana? Aber warum die Trommel? War Sulana mit O zusammen, wohnten sie beide hier?
Wanja trat noch einen Schritt näher, doch als es unter dem Wohnwagen raschelte, sprang sie mit einem wilden Satz zur Seite.
Vor dem gelben Wagen war eine Wäscheleine gespannt, darauf, gleich neben Peruns weißem Seidenhemd, hing das Sternenkleid der Sängerin.
Hinter dem Wagen fing der Wald an, in den ein kleiner Weg hineinführte. Schattig und kühl war es hier, und als Wanja den Weg betrat, stand sie plötzlich vor dem dritten Wagen, von dem sie vorhin nur das Hinterteil wahrgenommen hatte. Er sah anders aus als die anderen, dunkel, heruntergekommen, als wäre er vor einer Ewigkeit an dieser Stelle abgestellt und seither nicht mehr benutzt worden.
Wieder hörte Wanja ein Rascheln, dann ein Knacken, es kam aus dem Wald, irgendwo aus dem Unterholz. In dem Wäldchen, in dem sie und Jo ihr Haus hatten, knackte es jeden Tag dutzende von Male und meistens konnte Wanja sogar an der Art der Geräusche hören, von welchem Tier sie kamen. Aber hier war alles fremd und mit einem Mal auch unheimlich. Wanja war schon im Begriff, umzukehren, als sich mit einem lang gezogenen Quietschen die Tür des Wagens öffnete.
In ihrem verfallenen Rahmen stand ein steinalter Mann. Er trug ein verlottertes Gewand, sein weißes Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, unzählige Falten gruben sich tief in sein schmales Gesicht und in seinem Mund, den der Alte jetzt zu einem breiten Grinsen auseinander
Weitere Kostenlose Bücher