Die geheime Reise
Sie suchte nach den richtigen Worten und plötzlich hielt sie an. »Mensch, Mischa, so wie beim letzten Mal, in der Zirkusvorstellung, da musst du es doch mitbekommen haben! Da ist es zum ersten Mal passiert, aber es war so kurz, dass ich mir nicht sicher war. Mann, das fällt mir erst jetzt wieder ein.«
Mischa war auch stehen geblieben. Er fuhr sich nachdenklich durch die Haare. »Stimmt«, murmelte er. »Hab ich glatt vergessen. Ich dachte damals, das gehört zur Nummer.«
»Das hatte ich auch gedacht. Aber diesmal war es ganz deutlich. Der Schatten schien von diesem Vogel auszugehen. Ich hab ihn nur kurz gesehen, er sah schrecklich aus.«
Wanja schüttelte sich, bevor sie ihr Fahrrad weiterschob und schweigend neben Mischa herging. Jetzt kamen sie zu der Ampel, die auf Rot stand.
»Glaubst du …«, Wanja holte ihre Haarsträhne aus dem Mund und strich sie hinter ihr Ohr, »glaubst du, das alles hat was mit dem Alten zu tun? Wenn du gesehen hättest, wie der mit seinem komischen Stock in den Himmel gezeigt hat.« Sie schauderte.
Mischa zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Scheint ja wirklich ein unheimlicher Typ gewesen zu sein.«
Wanja krampfte ihre Finger um die Griffe des Lenkers. »Ich fühl mich richtig mies. Was hat denn das alles zu bedeuten?«
Die Ampel sprang auf Grün und auf der anderen Straßenseite schlug Mischa den Kragen seiner Cordjacke hoch. Es hatte angefangen zu regnen.
»Ich muss los.« Wanjas letzte Frage hatte er nicht beantwortet, wie sollte er auch, dachte sie düster. Doch im Wegfahren drehte sich Mischa noch einmal nach ihr um. »Übrigens. Danke.«
Wanja starrte ihn überrascht an. »Danke wofür?« »Dass du mich mit Taro allein gelassen hast.« »Ach so, das.« Mischa war schon weitergefahren und Wanja sah ihm nach. Seine Worte hatten ihr gut getan.
Mit einem Seufzer lenkte Wanja ihr Fahrrad nach rechts. Es war zehn nach zwei, und als Wanja in den Waldweg zu ihrem Haus bog, schüttete es. Als sie in den grauen Himmel sah, fiel Wanja plötzlich die schwarze Vogelfeder wieder ein, die sie damals im Wald gefunden hatte, kurz vor ihrem ersten Besuch, als sie sich das, was sie jetzt erlebte, nicht hätte träumen lassen.
K RANKENBESUCH
N adelspitzkalte und silbergraudürre Bindfäden regnete es, als sich Wanja in der zweiten Pause zu Sue, Tina und Britta auf die überdachte Bank vom Schulhof drückte. Seit dem heftigen Regenschauer auf Wanjas Rückweg vom Museum war das Wetter jetzt schon so und Jo fluchte jeden Morgen aufs Neue, das sei kein Sommer, sondern Herbst und ihre Nerven wären langsam wirklich am Ende.
Das sind meine Nerven auch, dachte Wanja, als sie wie jeden Tag zu Mischa hinüberschaute, dessen leichtes Kopfschütteln ihr sagte, dass auch er noch keine Nachricht für einen neuen Besuchstag erhalten hatte. Über vier Wochen waren in der Zwischenzeit vergangen und die einzigen Sondermeldungen, die es seitdem im Radio, Fernsehen oder in der Zeitung gegeben hatte, bezogen sich auf einen Flugzeugabsturz in Asien.
»Zeig doch mal her«, sagte Britta und versuchte Sue die Mädchenzeitschrift aus der Hand zu reißen. »Mensch, Sue, das waren ›Siggis sieben Stylingtipps‹, lass doch mal kurz sehen.«
Sue verdrehte die Augen. »Diese dämlichen Ratschläge sind doch was für Omas«, erwiderte sie abfällig. »Wenn du dich für so was interessierst, zeig ich dir lieber die Tricks meiner Schwester.«
Jetzt war es Britta, die mit den Augen rollte. »Du und deine Schwester.«
»Nun hört doch mal auf«, mischte Tina sich ein. »Bevor ihr euch weiter anzickt«, sie hielt ihren Finger auf die nächste Seite, die Sue aufgeblättert hatte, »lasst uns lieber den Psychotest machen.«
»Also gut, aber ich lese vor.« Sue schüttelte ihre Haare zurück, hielt sich das Heft unter die Nase und räusperte sich. »Wie geheimnisvoll bist du?«, begann sie und machte eine Pause, die wohl ebenfalls geheimnisvoll sein sollte. »Also Mädels, zieht euch warm an, hier kommt die erste Frage: Zum Ausgehen mit deinem neuen Freund hast du dir ein total abgefahrenes Outfit zugelegt. Als du es überstreifst und dich damit im Spiegel betrachtest, denkst du: A): Wow! Eigentlich müsste er mich total sexy finden, und wenn nicht, ist er blind. B): Danke Spiegel – heute werde ich zu Höchstform auflaufen. Oder C): …« An dieser Stelle warf Sue einen ermutigenden Seitenblick auf Tina, »… Irgendwie bin ich das nicht. Oder doch? Auf jeden Fall habe ich mich schon mal selbst
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