Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
Vom Netzwerk:
zog, steckten an Stelle von Zähnen nur dunkle Stümpfe. Einzig die Augen, die fest auf Wanja gerichtet waren, funkelten und strahlten.
    Wanja war fast das Herz stehen geblieben. Sie wollte weg, nur weg von hier, aber sie stand da wie erstarrt. Endlose Sekunden verharrte sie, dann ließen die Augen des Alten von ihr ab. Mit seinem Stock, der wie der knorrige Ast einer Eiche aussah, zeigte der Alte in den Himmel, und als er Wanja kurz darauf noch einmal ansah, erschien es ihr, als hätten sich seine Augen verdunkelt. Er machte einen Schritt nach hinten und schloss die Tür.
    Wanja blieb allein zurück. Ein, zwei Sekunden lang stand sie noch da, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und zurücklief. Aus dem hellgrünen Wagen kam ihr O entgegen, aber Wanja rannte an ihm vorbei, stolperte fast über einen Stein und schenkte auch den Artisten in der Cafeteria keine Beachtung.
    Die Tür zu Taros Wohnwagen stand noch offen und Wanja hörte die Trommeln schon von weitem. Takkatamm, takka-tamm, tack-tack, takka-ta-tamm.
    Es war ein einfacher Rhythmus, aber er klang so gut, dass Wanja eine Weile vor dem Wagen stehen blieb und lauschte. Die eine Trommel fragte, die andere antwortete. Durch sie kannst du sprechen, hatte Taro vorhin gesagt. Jetzt waren die Trommeln im Dialog, während die Schläge vor ihrem Spaziergang von Mischa gekommen waren, dessen war sich Wanja sicher. Tiefer Hass hatte darin gelegen. Hass worauf? Auf den Mann am Telefon, Mischas Vater?
    Wanja ging weiter und dann war er plötzlich wieder da. Der Schatten, der aus dem Nichts kam. Wanjas Kopf fuhr in den Nacken, sie sah zum Himmel, der jetzt dunkelgrau war, wie auch alles andere um sie herum. Selbst Wanja hatte keinen Funken Farbe mehr am Körper. Ja, es kam ihr sogar so vor, als ob sich der Schatten bis in ihr Inneres drängte, ihr die Kehle zuschnürte und eine namenlose Angst in ihr aufsteigen ließ. Dann hörte sie den Schrei. Ein lauter, hämischer Vogelschrei, dicht über ihrem Kopf. Und fast gleichzeitig sah sie den Umriss des Vogels. Groß und schwarz flog er über sie hinweg. Als er außer Sichtweite war, kehrte die Farbe zurück und im selben Moment ertönte der Gong. Wieder fühlte Wanja das Kribbeln in ihrem Inneren und diese seltsame Sehnsucht.
    Die Tür des Wohnwagens sprang auf, Mischa stand im Türrahmen, sein Gesicht leuchtete. Haben die denn nichts gemerkt, fragte sich Wanja verzweifelt. Auch Taro, der jetzt hinter Mischa erschien, lächelte, doch als er Wanja sah, legte sich seine Stirn in Falten.
    »Was ist passiert?« Mit einem Satz war er bei ihr und hielt sie bei den Schultern. Wanja öffnete den Mund, aber es kam kein Wort heraus. Stattdessen umarmte sie Taro, hielt sich fest, ganz fest an ihm, doch da ertönte der Gong bereits zum zweiten Mal. Das Kribbeln wurde stärker, die Sehnsucht größer, begleitet von einem vagen Gefühl der Schwerelosigkeit.
    »Ihr müsst los.« Taro löste sich aus Wanjas Umarmung und schob sie vor sich her zur Manege. Mischa ging mit langen Schritten neben den beiden her.
    »Das nächste Mal erzählst du mir alles«, sagte Taro, als Wanja vor dem Rahmen noch einmal den Mund öffnete. »Jetzt ist es Zeit für euch, zu gehen.«

    »Ich …«, sagte Wanja. Taro schüttelte den Kopf. Er sah ernst aus. »Jetzt nicht, Wanja. Das nächste Mal.«
    Wanja nickte, als sie in die Dunkelheit des Rahmens griff. Die ganze Freude, die sie noch vor kurzer Zeit so stark empfunden hatte, war verflogen.
W AS WAR DAS ?

    I ch versteh das nicht. Habt ihr denn gar nichts davon mitbekommen?« Wanja schob ihr Fahrrad neben Mischa her. Sie waren schon fast wieder an der Ampel, an der sie sich beim letzten Mal getrennt hatten. Diesmal hatte Mischa nicht einfach den Saal verlassen wie nach dem letzten Besuchstag. Als die alte Frau die Jugendlichen verabschiedet und ihnen versichert hatte, dass sie eine Nachricht erhalten würden, hatte er an Wanjas Seite gestanden. Auch beim Rückweg durch den dunklen Gang ins Museum war Mischa direkt hinter ihr geblieben. Und als Alex und Natalie in die andere Richtung davongeschlendert waren, hatte er Wanja gefragt, ob sie noch ein Stück zusammen gehen würden. 
    Auf ihre Frage schüttelte er jetzt langsam den Kopf. »Ich hatte beim Trommeln die Augen zu und Taro wahrscheinlich auch, sonst hätte er doch bestimmt nicht weitergespielt. Bist du dir ganz sicher?«
    »Todsicher.« Wanja biss auf ihrer Haarsträhne herum, »Ich bin doch nicht verrückt. Alles ist schwarz-weiß geworden wie, wie …«

Weitere Kostenlose Bücher