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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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noch nie.«
    Mischa schwieg. Wanja holte Luft und stellte die Frage, die ihr schon seit Wochen auf der Zunge brannte. »Und dein Vater? War das der Mann am Telefon neulich?«
    Mischa sah sie an. Seine Augen waren jetzt so kalt, dass Wanja trotz der heißen Tasse in der Hand unwillkürlich fröstelte.
    »Kein Vater wäre mir tausend Mal lieber als dieses besoffene Schwein«, presste er zwischen den Lippen hervor.
    Wanja wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie dachte an die lallende, hasserfüllte Männerstimme und daran, wie Mischa gleich darauf den Hörer aufgelegt hatte. Sie dachte an die harten Trommelschläge, die ihr im Zirkus aus Taros Wohnwagen nachgeklungen waren. Und sie dachte an Mischas leuchtendes Gesicht, als er nach dem Trommeln aus dem Wagen gekommen war.
    »Wie war es, mit Taro zu trommeln?«, fragte sie mit einer so leisen Stimme, als würden sie von jemandem belauscht.
    Mischa zerbrach eine Salzstange zwischen den Fingern und sagte lange gar nichts. Als er Wanja wieder ansah, hatten sich seine Augen verändert. »Es war das Beste«, erwiderte er. »Das Beste, was mir je passiert ist.«
    In der Küche war es jetzt so still, dass Wanja von dem Geräusch des Schlüssels, der sich in der Haustür umdrehte, zusammenfuhr, als hätte jemand ganz plötzlich ganz laut das Radio aufgedreht. Gleich darauf stand Jo in der Tür. Grüne Bluse, beige Hose.
    »Ich bin extra früher …«, setzte sie an. Plötzlich hielt sie inne und Wanja hatte das Gefühl, als zucke Jo zusammen.
    »Das ist Mischa«, sagte Wanja. »Ich hab dir doch erzählt, dass er mich heute Nachmittag besuchen kommt.«
    Jo kam auf die beiden zu und streckte Mischa die Hand entgegen. Ihr Gesicht war wieder ganz normal. »Stimmt«, sagte sie, »das hatte ich schon wieder vergessen. Hallo Mischa. Ich bin Jo.«
    »Hallo.« Mischa sprang so schnell von seinem Platz auf, dass Schröder wie eine Kugel auf den Boden rollte. »Ich … ich, wollte sowieso gerade gehen.«
    Wanja stand auch auf. »Ich bring dich noch zur Tür.«
    »Meine Mutter beißt nicht, weißt du«, sagte sie, als Mischa im Flur nach seiner Jacke griff. »Du kannst ruhig noch bleiben.«
    Statt einer Antwort stieß Mischa Wanja an. »Kuck mal, was da liegt.« Er zeigte auf das Tischchen im Flur, auf dem Jo immer ihre Post ablegte. Wanja trat näher, und als sie sah, was Mischa meinte, fing ihr Herz zu rasen an.
    Ganz oben auf einem Stapel von Zeitungen und Briefen lag das Werbeblatt von einem Pizzaservice. »Call a Pizza«, stand in dicken Buchstaben darauf. Darunter war eine Pizza abgebildet, mit Ananas und Hühnerfleisch. Daneben stand der Preis, 9,90 Euro, und ganz unten in der Ecke war ein kleiner roter Rahmen. Vaterbilder. Der dritte Besuchstag findet am 17. Juli um 15:30 Uhr statt.
    Als Wanja nach dem Blatt griff, zitterten ihre Hände. »Morgen«, flüsterte sie. »Mensch, Mischa, der 17. Juli ist morgen.«
    Mischa schob sich aus der Tür. »Wir treffen uns am Museum, okay?«
    Wanja wusste kaum, wie sie die Zeit bis zum nächsten Tag rumbringen sollte. Jo hatte sich von Flora zum Ausgehen überreden lassen. Als sie ging, trug sie Bordeauxrot und sah einfach umwerfend aus. Jo war jünger als alle anderen Mütter aus Wanjas Klasse und selbst Sue gab zu, dass man sich mit einer solchen Mom sogar in der Disco sehen lassen konnte. »Wenn ich zurück bin, schläfst du sicher schon«, sagte Jo, als sie sich die Jacke zuknöpfte und Wanja zum Abschied auf den Mund küsste.
    Aber Wanja konnte lange nicht einschlafen. Sie hätte gern Musik gehört, aber ihr CD-Player war kaputt und einen neuen würde es höchstens zum Geburtstag geben, wenn überhaupt. Im Radio kam nur Blödsinn. Wanja lag im Bett und starrte auf die weißen Ziffern. 00:00 Uhr, die Stunde, in der damals alles anfing, war längst vorbei. Als Wanja die Augen schloss, sprangen die Ziffern der alten Uhr gerade auf 2:12 Uhr und unbestimmte Zeit danach fiel Wanja in einen wirren Traum.
    Sie war in der Schule, der Sportlehrer war krank, Jo hatte Vertretung. Wanja sollte am Seil hochklettern, sie fühlte sich frei und leicht. Höher und höher stieg sie an dem Seil hoch, dem Mann entgegen, der ihr oben, ganz oben am Ende des Seils die Hand entgegenstreckte. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, der Mann winkte ihr zu und rief etwas. Ich will sein Gesicht sehen, dachte Wanja und plötzlich tat ihr alles weh. Sie schaute nach unten, wo Britta, Sue und Tina standen, neben Jo, die immer »Vorsicht Wanja, Vorsicht, nicht so hoch«

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