Die geheime Reise
sich schon komisch, dachte sie. Je näher ein ersehnter Augenblick rückt, desto langsamer vergehen gerade die letzten Minuten, bis es so weit ist. Und diese letzten Minuten sollten sich heute noch schmerzlicher in die Länge ziehen.
»Oh nein!«, stöhnte Alex, der als Erster die Eingangshalle betrat. Vor der Kasse stand eine Schlange von etwa 30 Senioren, siebzig Jahre aufwärts. Am Ende der Schlange standen die Jugendlichen, die sich vorhin durch die Eingangstür gedrängt hatten. Auch der dicke Junge und das Mädchen mit den grünen Haaren waren unter ihnen und sie machten so verzweifelte Gesichter, dass Wanja plötzlich lachen musste. »Na, dann wollen wir uns mal schön artig hinten anstellen.«
Millimeter für Millimeter kroch die Seniorenschlange vorwärts. Keiner der vier hatte Lust, die Zeit mit Reden totzuschlagen. Natalie kaute Fingernägel, Alex trat von einem Bein aufs andere, als wäre er kurz davor, in die Hose zu pinkeln, Mischa hatte sich neben sie auf den Museumsboden gehockt und Wanja beobachtete die alten Leute.
Eine halbe Ewigkeit war vergangen, als endlich die alte Dame, die das Ende der Schlange bildete, an die Reihe kam.
Beim Bezahlen fiel ihr das Portmonee aus der Hand und im nächsten Moment stürzten sich fünfzehn Mädchen und Jungen auf die herausspringenden Münzen. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis das Geld eingesammelt war, und die alte Dame bedankte sich mit einem so überraschten Lächeln, als hätte sie soeben ihren Glauben an die heutige Jugend wieder gefunden.
Als sich Wanja hinter Natalie durch die Drehtür schob, war es Viertel vor vier, und als die Horde Jugendlicher im Sturmschritt die Abteilung der Alten Meister, die rote Tür und den dunklen Gang durchquert hatte, stand die alte Frau schon auf der Bühne.
»Keine Eile«, sagte sie beruhigend. »Es ist noch genug Zeit. Seid ihr so weit oder wollt ihr erst einmal durchatmen?«
Nein, niemand wollte durchatmen, obwohl alle außer Atem waren. Sie brannten vor Ungeduld und die alte Frau, bei der Wanja auch diesmal wieder das Gefühl hatte, dass sie Mischa und sie länger ansah als die anderen, zog den gusseisernen Pinselkopf nach unten.
Zwei Hände am Trapez. Das war heute auf dem Bild. Das Trapez stand so schräg in der Luft, dass es fast nach rechts oben aus dem Bild kippte, die Hände hielten die Stange umschlossen, und als Wanja und Mischa auf ihrem Platz in der Manege gelandet waren, schwang die Schaukel gerade zurück. An der Stange hing Taro. Er zog die Beine hoch und holte Schwung, als wolle er das Trapez überholen. Immer schneller und höher schaukelte er, bis sein Körper auf der Stange zu einem kurzen Handstand kam und mit dem Zurückschwingen der Schaukel wieder nach unten sauste.
Es sieht so leicht aus, dachte Wanja, während sie wie verzaubert jede einzelne Bewegung des Akrobaten verfolgte. Taro hatte sich auf das Trittbrett geschwungen, hielt die Schaukel fest und sah hinüber zu Gata, die auf dem Trittbrett gegenüberstand.
»Fertig?«
»Fertig. Nach meiner vierten Umdrehung lass los.« Gata stutzte. »Nach der vierten? Aber wir …« »Nach der vierten , Gata. Tu, was ich sage.«
Taros Tonfall erlaubte keine Widerrede. Gata klappte
verärgert den Mund zu und hielt das Trapez in Stellung, während Taro auf seiner Position die Arme zum Abschwung hob. Dann – diesmal wusste Wanja, dass es Mischas Arm war, in den sich ihre Finger verkrallten – sprang Taro ab. Seine Hände lösten sich von der Stange, sein Körper flog durch die Luft und drehte sich: einmal, zweimal, dreimal, viermal. Wie verabredet, ließ Gata das Trapez los, genau bei Taros vierter Umdrehung, und seine Hände ergriffen die Stange. Im allerletzten Augenblick.
Wanja stockte der Atem. War das, was Taro da gerade gemacht hatte, nicht der Salto mortale? Sie hatte diese Nummer schon ein paar Mal im Fernsehen gesehen, in alten Zirkusfilmen, aber da war der Fliegende immer von einem Fänger gehalten worden.
»Du alter Starrkopf, wir haben drei, nicht vier Umdrehungen ausgemacht«, schimpfte Gata, als sie das Trapez mit Taro zum Sicherheitsnetz herabseilte. Taro sprang auf den Boden und grinste. Dann stellte er sich vor die Ehrenloge, umfasste mit beiden Händen den roten Rahmen und schaute hindurch zu Wanja und Mischa.
»Was für ein schönes Paar ihr doch seid«, sagte er augenzwinkernd.
Wanja ging nicht auf seinen Scherz ein, sondern schielte ängstlich nach oben. »Das willst du aber später nicht ohne Netz aufführen,
Weitere Kostenlose Bücher