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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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oder?«
    »Da kennst du Taro schlecht«, gab Gata zur Antwort, die sich ihre Hände am Trikot abrieb. »Ich bin schon froh, dass ich ihn überreden konnte wenigstens bei der Probe das Netz aufzubauen.«
    »Ist ja schon gut.« Taro zwinkerte Gata zu. »Ich werde ein braver Junge sein und so lange das Netz benutzen, bis ich den Salto mortale im Traum beherrsche.«
    Bei dem Wort Traum zuckte Wanja zusammen. Der Traum von gestern Nacht schoss ihr wieder in den Kopf. Der Mann ohne Gesicht, der garantiert nicht der hagere Kerl in Jos Morgenrock gewesen war. Aber wer war er dann gewesen? Sie sah in das lachende Gesicht von Taro, das ihr inzwischen so vertraut war, als ob sie es seit Jahren kannte.
    »Na?« Taro deutete nach oben. »Bist du bereit für eine kleine Probe, Wanja?«
    »Was, ich? Jetzt?« Die Frage kam so plötzlich, dass Wanja einen Schritt zurücktrat. Dabei merkte sie, wie ihr ganzer Körper zu beben anfing.
    Taro ging zu der Kette, die an der Stange des Zirkuszeltes befestigt war. Er zog die noch in der Luft hängende Schaukel zurück und zeigte auf das Trapez über dem Sicherheitsnetz. »Voilà, Wanja. Die Manege gehört dir.«
    Wanja schaute von Taro zu Gata und von Gata zu Mischa. Sechs Augenpaare, die sie anschauten, drei Köpfe, die ihr zunickten. Ja, auch Mischa nickte ihr zu.
    Wie ein scheues Tier, das jemand mit einem Leckerbissen lockt, ging Wanja auf das Netz zu, während das Beben in ihrem Körper immer stärker wurde. Mit Taros Hilfe zog sie sich an dem Netz hoch, krabbelte erst auf allen vieren und versuchte anschließend aufzustehen. Das Netz wackelte wie ein Schiff bei Seegang. Zwei Schritte, dann fiel Wanja hin und für einen kurzen Moment wäre sie am liebsten wieder nach unten gestiegen. Aber die Lust, das Unbekannte auszuprobieren, war stärker, und als ihre Hände die Trapezstange umschlossen, erschien ihr dieser Moment plötzlich wie ein Geschenk, auf das sie lange gewartete hatte.
    Wanja schwang sich auf die Stange und Taro zog an einem Seil das Trapez in die Höhe.
    »Sag, wenn es dir hoch genug ist«, rief er ihr zu. Wanja schwieg. Schwieg und schwieg, bis der Blick nach unten sie schwindeln ließ.
    »Genug.« Es gab einen leichten Ruck.
    »Das Trapez ist fest, Wanja. Du kannst anfangen.« Wanja schaukelte los. Vor, zurück. Beine hoch, Beine runter. Vor, zurück.
    Sie schloss die Augen und sah Jos Gesicht vor sich, die ihr zurief und lachte, vor und zurück, Mäusespatz, Beine hoch, genau, und Beine runter, ja, super, Wanja, hoch und runter, vor, zurück, halt dich fest, ja, du kannst es, du kannst schaukeln, Flora, schau, mein großes, kleines Mädchen kann schaukeln, kann schaukeln, kann schaukeln.
    Als Wanja die Augen wieder öffnete und der ziemlich verschmutzten Manegendecke entgegenschaukelte, fühlte sie sich so leicht und sicher, als hätte sie jahrelang lang nichts anderes getan, als hier oben zu sitzen und zu schaukeln. Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging, doch sie nahm die Trommel wahr, die jetzt ihr Schaukeln begleitete. In ihrem Rücken ertönte sie, erst zaghaft, dann immer sicherer und rhythmischer, ganz im Einklang mit ihren Bewegungen.
    Gerade als sich Wanja fragte, ob Taro an der Trommel war, entdeckte sie ihn. Er stand ihr gegenüber, auf dem schmalen Trittbrett, das zweite Trapez, das Gata vorhin wieder zurückgebunden hatte, in seinen Händen. Er griff danach, schwang los und rief Wanja zu, sie solle sich hinstellen. Wie denn, wollte Wanja fragen, doch plötzlich spürte sie, dass sie wusste , wie. Es war ganz einfach. Mit den Händen griff sie höher, stellte erst den einen, dann den anderen Fuß auf die Stange, zog sich im Schaukeln hoch und kam dabei nur für einen kurzen Moment aus dem Gleichgewicht.
    Beide Trapeze hatten jetzt einen solchen Schwung, dass sie sich in der Mitte beinahe berührten. Auch Taro stand jetzt, schaukelte weg von ihr, kam wieder auf sie zu, ließ mit seinen Händen die Seile seiner Schaukel los und griff nach der Stange von Wanjas Trapez.
    »Nicht aufhören«, hörte sie seine Stimme unter ihr. »Weiterschaukeln, Wanja, schneller, bleib im Rhythmus der Trommel, schau nicht nach unten, denk nicht nach, bleib einfach im Rhythmus!«
    Wanja atmete ihre Aufregung weg, schaukelte weiter und im nächsten Moment saß Taro bei ihr auf dem Trapez. Wie ein Klappmesser musste er seine Beine hochgeklappt und zwischen ihren Füßen auf die Stange gelegt haben.
    »Setz dich«, sagte er. »Dir kann nichts passieren, du bist sicher.«
    Wanja

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